/

Die Erlösung des Planeten

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Reiner Kunze

»Die Erlösung des Planeten von der Menschheit / ist der Menschheit mitgegeben / in den Genen«, heißt es in Reiner Kunzes neuem Band mit Gedichten und Prosaminiaturen. Ungewohnt offen nimmt Kunze darin Stellung zur politischen Lage in Osteuropa. Viele Verse kreisen um das Thema Alter und Vergänglichkeit. Ein Porträt von PETER MOHR

Reiner Kunze: Die Stunde mit dir selbst _978-3-10-490857-1.66914891»Selbst wenn ich keine Leser hätte, würde ich schreiben. Es ist meine Art zu leben – manchmal auch zu überleben«, hatte Reiner Kunze vor fünfzehn Jahren in einem Interview erklärt. Ein Leben für und mit der Literatur – aber eines ohne das laute verbale Geklapper, zurückgezogen und beinahe eremitenhaft, ohne die heute beinahe schon obligatorische Präsenz in den Medien.

»Jeder wird nur das tun, was ihm Spaß macht. Wozu sich also Fertigkeiten aneignen und Reflexe einhämmern, die man später niemals brauchen wird?«, heißt in einem kurzen Prosastück des 1976 zunächst nur in der Bundesrepublik erschienenen Bandes ›Die wunderbaren Jahre‹.

Die SED-Zensoren witterten subversives Gedankengut in diesen Texten, die als Schwarzdrucke auch in der DDR kursierten, und verschärften die Hetzjagd auf den Erfolgslyriker, der mit seinen Bänden ›Sensible Wege‹(1969) und ›Zimmerlautstärke‹ (1972) beachtliche Auflagezahlen erreicht hatte.

Es war die Zeit der Biermann-Ausbürgerung, als ein hoher Kulturfunktionär des SED-Staates gegenüber Reiner Kunze in einem Vier-Augen-Gespräch einen ›Unfall auf der Autobahn‹ nicht mehr ausschließen wollte. Sein Parteibuch hatte der Schriftsteller bereits nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings zurückgegeben, aus dem Schriftstellerverband war er ausgeschlossen – es blieb ihm am 13. April 1977 nur die Ausreise in den Westen.

Im Gegensatz zu vielen Schicksalsgefährten kannte Reiner Kunze nach der Übersiedlung in die ihm lange fremd gebliebene westliche Welt keine materielle Not. Noch im gleichen Jahr erhielt er den Georg-Büchner-Preis, Universitäten lockten mit Gastdozenturen, und seine Frau arbeitete im Westen wieder als Ärztin.

Doch der Poet Kunze eckte auch in der Bundesrepublik immer wieder an. Er ließ sich nicht als sozialismusverteufelnder Dissident missbrauchen, sprach trotz aller Schikanen niemals mit Hass oder Verachtung über seine Jahre in der DDR, kritisierte Günter Grass und Heinrich Böll für ihr Arrangement mit den Regierenden Osteuropas, und in seinen Gedichtbänden ›Auf eigene Hoffnung‹ (1981) und ›Eines jeden einzigen Lebens‹ (1986) klangen latent kritische Töne über den ›freiheitlichen‹ Westen an.

Reiner Kunze, der heute vor 85 Jahren als Sohn eines Bergarbeiters in Oelsnitz im Erzgebirge geboren wurde und durch den Besuch einer Aufbauklasse für Arbeiterkinder zum Abitur gelangte, begann schon in jungen Jahren Gedichte zu schreiben. Seine große Passion, der er bis heute frönt – allen Jugendbüchern und Übersetzungen zum Trotz. Kunzes Verhältnis zur Poesie ist am eindrucksvollsten im Essayband ›Das weiße Gedicht‹ (1989) nachzulesen. Die Lyrik dient als Spiegel der Lebenserfahrung: der Alltag, die Natur, die Liebe, Ängste, Träume, Hoffnungen oder Reiseimpressionen – wiederkehrende Sujets in seinen Versen.

Reiner Kunze, der uns mit dem Prosaband ›Die wunderbaren Jahre‹ die poetischste Auseinandersetzung mit dem schikanösen Alltag der DDR vorlegte, wirkt im heutigen, schnelllebigen Literaturbetrieb beinahe schon wie ein Fossil aus vergangener Zeit – ein kluger Dichter, der sich nur dann zu Wort meldet, wenn er auch etwas Substanzielles zu sagen hat. Für ›herausragende Leistungen‹ dekorierte ihn der Freistaat Bayern mit seiner höchsten Auszeichnung – den Maximiliansorden. In seiner Laudatio rühmte der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber Kunze als einen ›der bedeutendsten deutschen Lyriker der Nachkriegszeit.‹ Kein Veto!

| PETER MOHR
| Foto: Schelm, Reiner Kunze Schorndorf 2012-01-29, CC BY 3.0

Titelangaben
Reiner Kunze: Die Stunde mit dir selbst
Frankfurt: S. Fischer Verlag 2018
72 Seiten, 18 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

12 Comments

Schreibe einen Kommentar zu Heiner Feldkamp (Hrsg.): Reiner Kunze – Materialien zu Leben und Werk - planetlyrik.de Antworten abbrechen

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Seltsame Sechziger

Nächster Artikel

Das Beste zum Schluss

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Geschichten, die wir selber schreiben

Musik | Interview mit Hannes Wittmer

Seit mehr als zehn Jahren ist Hannes Wittmer hauptberuflich als Musiker tätig. Der gebürtige Unterfranke wurde vor allem als Singer-Songwriter unter dem Pseudonym Spaceman Spiff bekannt, unter welchem er bis 2017 poetische, deutschsprachige Texte mit melancholisch anmutenden Gitarrenklängen vermischte. Als Teil der experimentellen Indie-Band Otago veröffentlichte er später auch englischsprachige Lieder und entfernte sich damit mehr als nur namentlich von seiner Rolle als Spaceman. 2018 entschied er, diese endgültig gehen zu lassen und fortan unter seinem bürgerlichen Namen aufzutreten. SARAH SCHMITTINGER traf noch vor den Kontaktbeschränkungen einen Künstler, der in den letzten Jahren gespürt hat, was es heißt, mit Erwartungen zu brechen und Alternativen aufzuzeigen.

»Die Federn des Carl Barks«

Comic | ›Disney‹-Zeichner Ulrich Schröder im Interview 17 Jahre lang hat Ulrich Schröder als Art Direcor für ›Disney‹ gearbeitet. Dabei hat er nie eine Zeichenausbildung absolviert – und seine Liebe zu Comics entsprang einem Unfall. Parallel zur Veröffentlichung des deutschen ›Micky Maus Magazins 7/8 2017‹, für das er das Covermotiv beisteuert, sind seine Werke in Würzburg zu sehen. CHRISTIAN NEUBERT traf Ulrich Schröder zum Interview.

Dableiben und mitmischen

Essays | Peter Schneider: Denken mit dem eigenen Kopf

»Wer sagt, er habe ich noch nie geirrt, hat viele Gelegenheiten verpasst, klüger zu werden«, heißt es in Peter Schneiders neuem Essayband ›Denken mit dem eigenen Kopf‹. Er mag sich im Laufe seines Lebens auch geirrt haben, klüger ist er auf jeden Fall geworden. Der einstige jugendliche Rebell ist nämlich nicht nur älter, sondern auch weiser geworden. Bedächtig, geradezu altersmilde lesen sich viele jüngere Schriften aus Peter Schneiders leuchtend rotem Band. Von PETER MOHR

Alles tiefgauck eingefärbt im Lande

Menschen | Margaretha Kopeinig: Jean-Claude Juncker Wer die Meldungen zum Thema Europa während der vergangenen Jahre einer Alarm-Skala zuordnet, dürfte Spitzenwerte erreichen. Griechenland, Zypern, Jugendarbeitslosigkeit, Ukraine, Austeritätspolitik, Bankenkrise, Rechtsradikalismus, UKIP etc. pp. Aber letztlich ist Alarm dabei, oder? Viel Aufgeregtheit. Dieser Tage erscheint die politische Biographie Jean-Claude Junckers, des im Juli direkt gewählten Präsidenten der Europäischen Kommission. Von WOLF SENFF

Reaching Out: An Interview With Midfield General

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world UK artist Damian Harris has had the type of career most could only dream of. Under the alias Midfield General he has released two superb albums (Generalisation and General Disarray) and had a string of hit singles (Devil In Sports Casual, General Of The Midfield, Reach Out, etc.) By JOHN BITTLES