Kinderbuch | Willi Fährmann: Deutsche Heldensagen
In Zeiten, in denen Begriffe wie »Identität«, »kulturelles Erbe« oder gar »nationales Erbe« wie Geschosse durch das gesellschaftliche Miteinander zischen, wo sie eher in Brand stecken als erhellen, kann die Neuauflage von Heldensagen zum heißen Eisen geraten. Von MAGALI HEIẞLER
Willi Fährmann als langjähriger Autor von Kinder- und Jugendbüchern braucht keine nähere Erläuterung zu seiner Person und wird hoffentlich auch noch viele Jahre nach seinem Tod 2017 keine brauchen. Hingewiesen werden soll aber darauf, dass die Auswahl der sechs Sagen, die er hier nacherzählt, von seiner Verwurzelung am Niederrhein beeinflusst sind. Die sechs Sagen beginnend mit ›Siegfried von Xanten‹ 1987 bis ›Wieland der Schmied‹ 1992 erschienen bereits unabhängig voneinander. Die Zusammenstellung in einem Band ergibt eine schöne Anthologie innerhalb der ansprechend ausgestatteten kleinen Reihe der Arena Klassiker für Kinder.
Fährmann erzählt linear, glatt, aber durchaus farbig. Sein Ton evoziert den weit kargeren Erzählrhythmus der zugrunde liegenden, sehr alten Sagen. Wer hier farbenprächtige modern gewandete Fantasy erwartet, wird enttäuscht. Fantasy ist nicht Sinn traditioneller Sagen. Vieles wirkt schroff, Übergänge in der Handlung sind nicht gefällig geglättet. Tat folgt auf Tat, psychologisiert wird nicht. Es wird auch nicht um Sympathie gebettelt, aber auch kein Gegner dämonisiert. Die auftretenden Figuren sind bereits mit ihren Eigenschaften ausgestattet, sie sind mutig, trotzig, stark und ausgesprochen eigenwillig. Die Folgen ihres selbstbewussten Auftretens müssen sie ertragen, bis hin zum gar nicht so seltenen Untergang.
Nicht nur Helden
Zu den Geschichten, die Fährmann nacherzählen wollte, gehören neben der Siegfriedsage und Kriemhilds Rache, die man am ehesten im Zusammenhang der sog. Nibelungensage kennt, die Sage um den Schwanenritter Lohengrin und Elsa von Brabant, die Geschichte der Königstochter Gudrun, des heldischen Dietrich von Bern und Wielands, des Schmieds. Dass Siegfried am Anfang und Wieland am Ende stehen, gibt dem Ganzen eine Art Klammer, da sich Siegfried und Wieland gleich in der ersten Erzählung in Mimes Schmiede begegnen, was Einfluss auf ihren weiteren – unabhängigen – Lebenslauf nimmt.
Abgesehen von den Wundertaten der herrlichen Helden (und ihrem wenig herrlichen Ende) sind die Geschichten, so wie sie erzählt wurden, geeignet, als Geschichten recht beeindruckender Frauen gelesen zu werden. Das gilt nicht nur für die unnachgiebige Kriemhild, sondern auch für Elsa und Gudrun, die ebensowenig aufgeben, obwohl sie in bösen Klemmen sitzen. Dass sie sich allein nicht befreien können, liegt an den für Frauen äußerst ungünstigen Umständen ihrer Zeit. Tatsächlich ist ihre Willensstärke, ihr Durchhaltevermögen, ihr schierer Trotz etwas, das sie zu Ahnherrinnen emanzipierter Frauen macht, denen nur die Brise Morgenluft fehlt, um endgültig den Weg in die Freiheit einzuschlagen. Aktiv sind Frauen hier, im Guten wie Bösen eigenständig. Da gibt es noch einige Tugenden zu entdecken, die mehr wert sind, als die Kunst des Totschlagens, derer sich die Vorbildmänner so hingebungsvoll widmen. Zurecht ziert eine Walküre den Einband.
So enthalten diese Sagen durchaus Denkanstöße, etwa, warum Kriemhilds Rache so negativ rezipiert wird, Wielands Rache aber legitimiert erschient. Fast allen gemein ist, dass sie über ihre Gefühle stolpern, das große Gefahrengebiet. Einmal in diesem Sumpf gelandet, gibt es kein Entkommen. Ob Liebe, ob Gier, das Ende ist tödlich. Wenn das nicht modern ist.
Misston
Einen Misston gibt es dennoch und das ist der Titel der Sammlung. Was an diesen Sagen ist deutsch? Das ist eine Vereinnahmung von Mythen, Motive, Symbolen, deren Wurzeln sehr weit zurückreichen und die sich zwischen dem nördlichen Skandinavien bis nach Oberitalien, vom Donaugebiet bis England erstrecken. Sie umschließen nordische, angelsächsische, germanische Traditionen, decken einen Zeitraum von einigen Hundert Jahren ab und kulturell eine Vielzahl von Sprachen und mehrere Religionen. Sie sind Teil eines gemeineuropäischen Erbes, in Dutzenden Varianten, Abwandlungen, Umwandlungen und Versionen über Jahrhunderte erzählt.
Möglicherweise ist es genau das sprechende Adjektiv des Titels, das Wieland Freund in seinem Vorwort zur Neuausgabe zu einer herzerwärmenden, wenn auch etwas verfehlten Attacke auf die Vereinnahmung gemeingermanischen Sagenguts durch die Nationalsozialisten veranlasst. Sie waren mit dieser Untat keineswegs die ersten, der Nationalismus des 19. Jahrhunderts hatte schon gründliche Vorarbeit geleistet. Um so mehr sollte man in Zeiten Europas auf die traditionelle, etwas weniger einschränkende Bezeichnung »germanische Sagen« zurückgreifen.
Überlesen sollte man gleichfalls die seltsame moralische Einschätzung des Verfassers des Nibelungenlieds. Man muss das Werk nicht mögen, aber wenn man es schon aburteilt, sollte man den Kontext kennen. Unterstellt jemand Homer bei der Lektüre der Ilias, »blutdürstig und schwärmerisch« zu sein?
Der kleine Band ist nicht der schlechteste Einstieg in die mitteleuropäische Sagentradition, besonders nicht für junge Leserinnen und Leser. Man muss ihnen jedoch deutlich machen, dass Fährmanns Nacherzählung nur eine von vielen ist und auch seine Auswahl eine persönliche. Es gibt viel mehr germanisch-nordische Sagen, es ist ein Land, in dem man sich in viele Richtungen bewegen kann, ein Land voller Merkwürdigkeiten, voll Unbekanntem, Beängstigendem und vielem, das man nicht auf Anhieb versteht. Tatsächlich ist es ein facettenreicher Blick auf das Leben und nicht nur das, was einmal war. Sagen können uns vieles lehren. Immer noch.
| MAGALI HEIẞLER
| Titelbild: arena-Verlag
Titelangaben
Willi Fährmann: Deutsche Heldensagen
Würzburg: Arena Verlag 2018
247 Seiten, 8,99 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren
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