Bühne | Punk-Rock-Musical | American Idiot
Nach dem Sommer und einer gewissen Leichtigkeit gibt es eine Menge Raum für den glamourösen Auftritt der Melancholie. Doch was noch schlimmer ist, als die Herbst-Tristesse, ist Johnnys unbändige Wut: Auf die Zeit, in der er lebt, auf den Ort, in dem er wohnt, letztendlich auf eine ganze amerikanische Generation!
Die Musik von »Green Day« ist nicht nur pulsierend laut und abgrundtief punkig. Die Band spielt Melodien, die unbequem sind; Melodien, die mitten ins rebellische Herz treffen.
ANNA NOAH fragt sich, ob das Aufbrechen der altbewährten Musical-Strukturen erfolgreich funktioniert.
Die erste »Punk-Oper«
»Green Day« legten ihr 2004 erschienenes, siebtes Album ›American Idiot‹ als Konzeptalbum an. Es wurde mehr als 15 Millionen Mal verkauft und mit einem Grammy ausgezeichnet. Wenige Jahre später beschlossen »Green Day«-Frontmann Billy Joe Armstrong und der Regisseur Michael Mayer eine Bühnenversion des Albums zu produzieren.
Die Story dürfte für viele nicht neu sein: Drei Freunde (Johnny, Will und Tunny) sind von ihrer Vorstadtexistenz desillusioniert und wollen ihr Glück in der Stadt suchen. Verlorene Liebe, Drogen und ungewollte Schwangerschaften sind die Themen eines sehr bizarren Musicals. Man könnte Parallelen zum Leben des »Green Day«-Sängers finden, aber im Gegensatz zu Armstrong endet keiner der Darsteller als weltberühmter Rockstar.
Stattdessen bekommt der Zuschauer die Rebellion einer paranoiden amerikanischen Generation nach 2001 direkt zu spüren. Ärgerlicherweise bleibt alles etwas plakativ und trotz perfekt aufeinander abgestimmter Choreographien auch nicht immer leicht zu durchschauen.
Die Bühne als Spiegel des Inneren
Die gesamten Szenen sind schlicht gestaltet. Einzig die zehn Stühle der Darsteller und ein in den Saal ragender Laufsteg könnte als Requisite bezeichnet werden. Zwei Podeste tragen die Bandmitglieder – mittig ist ein riesiger Spiegel installiert.
Als der erste Ton erklingt, springen alle Darsteller im Publikum auf, singen und tragen ihren Stuhl auf die Bühne. Danach wird nur noch über die Musik erzählt, einzig unterbrochen durch Johnnys Tagebucheinträge, die selten aus mehr als einem Satz bestehen. Es handelt sich deshalb streng genommen um eine Oper und kein Musical, da der gesprochene Dialog fehlt. Das Stück basiert auf situationsabhängigen Konzepten in Song-Szenen. Damit erinnert es an »Hair« – auch dort wird Rock-Musik speziell dafür verwendet, um eine durch Krieg und Ziellosigkeit paranoide Generation darzustellen. Dabei sind die Songs eher Statements, denn Handlungstreiber.
Die Band spielt 90 Minuten durch und wechselt die Songs ohne Pause; damit ist die Inszenierung nicht nur temporeich, sondern von Anfang an hat der Zuschauer das mulmige Gefühl, dass die gezeigten Charaktere keinen Weg aus dem Lärm in ihrem Inneren finden können. Jeder hetzt eigensinnig seinem persönlichen Glück hinterher. Dies überträgt sich grotesk perfekt auf die Zuschauer.
»Weck mich auf, wenn der Herbst beginnt«
Die Songs funktionieren auch in der deutschen Übersetzung. Mit hochkarätigen Sängern, einer bewegungsreichen Choreografie und einer extrem lautstarken Begleitband, schimmern Wut und Liebe durch Protest und Verzweiflung. Erst am Ende versteht das Publikum – gemeinsam mit Johnny -, was desillusioniert wirklich bedeutet.
Leider kann »American Idiot« den meisten Charakteren, besonders den Frauen, keine Tiefe geben. Das Ende ist offen für Interpretationen, sodass es jeden Zuschauer ansprechen könnte, der in der Lage ist, seine eigene Unzufriedenheit auf die Darsteller zu projizieren. Bedauerlicherweise gelingt das nicht jedem, denn etliche Besucher haben das Theater vorzeitig verlassen.
Doch die, die blieben und Johnnys Unruhe, seine Hoffnungslosigkeit, den sozialen Verfall und die Ausweglosigkeit ertrugen, wurden reich belohnt.
»American Idiot« scheint jeden anzuschreien, selbst aktiv zu werden – damit die Johnnys dieser Welt keine Albträume mehr haben müssen.
| ANNA NOAH
| FOTOS: © AGNES WIENER / NIKLAS WAGNER
Showangaben
American Idiot (offMusical)
Darsteller:
Johnny: Philipp Büttner
Will: Dennis Hupka
Tunny: Sebastian Smulders
u.v.a.
Musik: »Green Day« (Gesangstexte von Billie Joe Armstrong)
Buch: Billie Joe Armstrong und Michael Mayer
Deutsche Übersetzung: Titus Hoffmann
Inszenierung: Thomas Helmut Heep