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Litanei

Textfeld | Konstantin Arnold: Litanei

Es war gestern und es war spät. Ich weiß nur, dass es ungebrochene, unverheiratete Männer waren. Noch nie verwundet. Mit Kurzhaarschnitten und ehrlicher Arbeit. Dreck unter den Nägeln und den nötigen Kraftausdrücken. Sie hatten an langen bunten Strohhalmen gezogen und vor qualmenden Drinks gesessen. Da waren Nüsse und Aschenbecher so klar wie Kristalle, die das kalte Licht der Röhrenlampen mit etwas mehr Wärme zurück in den Raum schleuderten.

Die Männer wirkten nicht glücklich. Oder nur so glücklich, wie Männer eben wirken, die den Großteil ihrer Zeit einer Sache nachgehen, die nicht ihre eigene Sache ist und die sie nur machen, weil sie alle machen, und die sie nur tun, weil sie sie lange genug tun und sich von dieser Sache dann Dinge kaufen können. Einer der Männer hatte ein Telefon am Ohr. Er sprach langsam über Berge, vielleicht nur wegen der brennenden Zigarette und dem Strohhalm, den seine Lippen beim Reden jonglierten. Seine Stimme klang nach geschlagenem Blech und schepperte durch die Gespräche über den Tisch. Seine Ärmel waren hochgekrempelt und in der Hand hielt er einen dicken schwarzen Autoschlüssel. Oder das, was heutzutage noch von Autoschlüsseln übrig geblieben ist.

Das sind meine letzten Erinnerungen, die letzten Zeichen von Zivilisation, ein Beweis dafür, dass man in einer gründlich globalisierten Welt polynesische Drinks von einem englischen Kellner in einer portugiesischen Kneipe serviert bekommen kann. Ein zerfallenes Haus, mehr Gefühl als Fassade. Am Rande einer Stadt, die von einem Hochplateau auf einem landschaftlichen Silbertablett getragen wurde, an deren Rändern die Berge Wache standen. Das ist alles! Dann haben uns schmale einspurige Straßen ins Nichts entführt. In die Empfangslosigkeit. Immer weiter weg. Straßen, wie in Berge geworfene Spaghetti, die weichgekocht nie geradeaus führen. Vorbei an immer kleiner werdenden Dörfern, tief durch die Dämmerung einer noch nie gemalten Landschaft. Links waren Olivenhaine, rechts wuchs der Wein. Auf den Straßen totgefahrenes Wild. Schweine, Füchse und andere Lebenszeichen. Irgendwann kam nur noch Wald, der an großen steilen Wänden hing. Hinter der Leitplanke wurde das Tal zur Schlucht, ohne ersichtlichen Grund, aber wir spürten, dass es tief war. Dann begann sich die Sonne den Horizont mit den Gipfeln der Berge zu teilen, flutete das Tal und legte nichts als brutalen Fels und Ununternehmbares frei. Hier angekommen, wo Kurzmitteilungen nicht mehr hinkommen, alle Gedanken dicht beisammenbleiben müssen, weil man aus den Tiefen der Täler zwischen den Höhen der Berge keinen einzigen von ihnen versenden kann, ist man richtig da, weil man richtig weit weg ist. Weil man niemandem erzählen kann, wie steil die Bäume hier wirklich am Hang stehen und wie schön die Sonne auf den alten Schiefer der Dorfhütten scheint.

So weit oben, so kurz vor Gott, an der Quelle zur Wasserleitung, die hier durch Brunnen ersetzt wird, hört man die Hunde bellen, die Glocken läuten, man hört das Wasser fließen. Kalt und klar. Die Elche vögeln im Wald und Spanien ist in spazierbarer Reichweite. Die Nächte sind so dunkel, dass man mit offenen Augen schlafen kann, und die Tage so zeitlos, dass man sie zu zählen beginnt, um nicht von ihnen vergessen zu werden. Hier oben im Norden ist Portugal mehr als ein breiter Strand. Der größte Unterschied zwischen den sonnenverbrannten Weiten des Südens und dem in den Himmel ragenden Norden des Landes ist der, dass sich ein betrogener Mann im Süden selbst umbringt, im Norden hingegen tötet er seine Frau oder deren Liebhaber. Die Kühe im Norden legen auch andere Fladen, tragen größere Glocken, fressen grüneres Gras und haben Hörner. Die Menschen, denen die Kühe gehören, sind forsch wie Forst und sprechen langsam, auch ohne brennende Zigarette und Strohhalm im Mund. Genauso langsam, wie der Mann mit dem Autoschlüssel am Telefon gesprochen hatte, als er sagte, dass vor ihm gerade ein hübsches Pärchen säße, das in den Bergen gerne Dinge benutzen würde, die keine Batterien brauchen.

Wie man sieht, passiert in einer Geschichte, die lange dazu bereit war, geschrieben zu werden, vieles, das auf den ersten Blick nicht gleich wie Passieren aussieht. Und auch nicht wie Passieren aussehen wird. Dafür aber verdammt nach Passieren ausgesehen hat. Im Präteritum passiert sowieso das meiste. Das hat was Allwissendes, in sich Geschlossenes. Mit einem Blick von Heute nach Gestern wäre das erste Kapitel also geschrieben. Alle Gedanken zum Leben erweckt. Obwohl ich finde, dass der Übergang von bunten Strohhalmen zu tiefen Tälern noch nicht ganz einleuchtend ist. War ja auch dunkel wie die (totgefahrene) Sau. Wie soll man bei schmalen einspurigen Straßen, die wie weichgekochte Spaghetti durch Nacht, Nebel und das Nichts führen, überhaupt mitkommen? Oder endlich mal die schönen neuen Worte schreiben, die ich in jener Nacht bei qualmenden Drinks gelernt hatte und schon immer mal benutzen wollte? Wird schon irgendwo passen. Hat immer irgendwie gepasst. Nur eben nicht in Kneipen oder auf Berge oder eine Ortschaft, in die Gott nur kommt, weil die Kirchen gekreuzte Antennen haben. Noch nicht.

Durch das Dorf, das unser Dorf ist, führt eine einspurige Straße. Es gibt mehr Kühe als Einwohner, und Bäume anstelle von Ampeln. Der Mittelpunkt des Dorfes, das unser Dorf ist, ist ein Hotel. Ein monumentales Gründerzeitgebäude mit stolzer Jahreszahl auf der Fassade, vor der sich ein großer Platz breitgemacht hat, der nur groß ist, weil alles andere klein ist. Alles, bis auf die Berge, die um das Hotel herum Millionen Jahre alt geworden sind. Einfach so, während dem Menschen nichts bleibt als ein mit Gefühlen vollgestopfter Bruchteil des irdischen Augenblicks, den man sich zumindest so schön wie möglich machen sollte. Deshalb haben wir gleich eine große Suite genommen. Zwei Badezimmer, zwei Räume zum Ankleiden, ein Zimmer allein für den Ausblick und eins, in dem ein kalter Kamin steht und ich an einem schweren Schreibtisch arbeiten kann, der Steckdosen im Holz hat und mit schwarzem Marmor bedeckt wurde. Die Toilette ist ein Raum für sich und das Schlafzimmer besteht aus sexuellen Erwartungen, an denen wahrscheinlich schon ganz andere gescheitert sind. Größere und Stärkere als ich. Haben die denn keine kleineren Betten im Kempinski? Oder Hindernisse, durch deren Meisterung der Held erst zur Legende wurde? Irgendwas, das diesen erektionsgeladenen Höhepunkt aus der Luft nimmt? Den Drang zu Höchstleistungen, die leidenschaftliche Bodenlosigkeit der verliebten Situation, den hüfthohen Marmortisch. Als müsste man allen Einrichtungsgegenständen zusammen etwas beweisen. Dem Ausblick, dem Zimmerservice, der vollgepackten Minibar. Ein Bett wie eine frisch gemachte Wolke, auf der man nur durchfallen kann. Ich fühle mich wie ein Mittelstürmer, der auf ein leeres Tor zu rennen muss und sich Tornados wünscht und foulende Gegenspieler, Erdbeben, die dann erklären können, wie man das noch versauen konnte. Verdammt es gibt sogar Plattenspieler und Bade-Öl. Es gibt Männer mit Zylindern und Doppelknopfleisten, funkelnde Rezeptionistinnen, Frauen in Rot, die alles Mögliche aufs Zimmer bringen und dann dieser Ausblick. Es gibt Concierges, also Typen, die den ganzen Tag nur Autos parken, und androgyne Jugendliche mit Kurzhaarschnitt, die dein Gepäck schleppen. Allein Bademantel klauen kostet 80 Euro, Sarkozy war angeblich auch mal hier. Ich muss mich frischmachen. Mir Druck und Sünde von der Haut waschen, jeder für sich und das eigens für ihn vorgesehene Bade-Öl, oder das, was davon später noch übrig geblieben ist.

Später hatte ich ihr gesagt, dass ich mich auf den großen Platz vor dem Hotel setzen werde, solange sie sich frischer macht als ich. Genauso wie in Hemingways Büchern, in ein schönes Café, das unter Bäumen steht und gute Drinks aus dünnen Gläsern serviert. Es ist ein gutes Gefühl, sich nach getaner Arbeit so gut zu fühlen und zu wissen, dass es auch in Beziehungen zwei Räume geben kann, in denen man sich ankleidet. Immerhin hat man mich vorher nur mit Lederjacke an Wänden lehnen sehen, Zigarette rauchend, sich keine Gedanken machend. Jetzt ist da wer, der sehen könnte, wie ich denke und mir Wachs in die Haare schmiere, bevor ich mich mit Zigarette wieder an Wände lehne. Als ich die andere Seite des Platzes erreiche, muss ich erkennen, dass die Welt nicht so schön ist, wie das, was ich von ihr beschreibe. Zwar ist da ein Café, aber nur eins unter roten Danone-Schirmen, mit mehr Eis als Verstand. Hemingways Drinks haben sie auch nicht. Ich könnte mich auf die Terrasse unseres Hotels setzen und von dort aus das Treiben beobachten. Nur darf man dort nicht rauchen und Treiben gibt es auch nicht. Außerdem ist alles verdammt teuer und mit Stoff bezogen. Somit bleibt nur eine warme Flasche Bier auf kaltem Bordstein, von dem aus ich der Dämmerung beim dunkler werden und der Silhouette im offenen Dachfenster unserer Suite, ganz oben, das wo das Licht brennt, beim Frischmachen zuschaue.

Ohne nach rechts oder nach links zu schauen eilte sie über die Straße. Rechts wäre egal gewesen, ist ja eine schmale einspurige Straße. Links war die reinste Intuition. Sie trug ein blaues Kleid mit Ärmeln und ihre portugiesische Bräune verstand sich bestens mit dem Silberschmuck, den ich ihr geschenkt hatte. Ihr Haar war geteilt, ansonsten fiel es frei und offen und ich konnte ihren Blick spüren, bevor ich ihn sehen konnte. Als teilten wir ein frischgemachtes Geheimnis. Meistens kleidet sie sich so, wie Gott es sich für ihren Körper gewünscht hätte. An diesem Tag wie ein Mädchen vom Land, das sonntags gerne Brombeeren pflückt. Eine reine Seele, ein gutes Herz, das im Fahrtwind des Lebens eine offene Lederjacke trägt. Sexuell, aber ohne eigene Sexualität. Das Schöne am Lieben ist, das es nach dem Lieben trotzdem weitergeht. Keine alleserhellende Klarheit, keine zerstörerische Einsicht, nur ein großer gemeinsamer Hunger und die gelbe Straßenbeleuchtung des Dorfes, das unser Dorf ist. Manchmal fühlt man sich zum Aufpumpen, schmal und ohne Muskeln. Manchmal vergreift man sich im Charakter, fürchtet, seiner Natur Gewalt anzutun, weil man alle Seitensprünge seines eigenen Willens vom Gesetz des Zusammenseins einlullen könnte. Stimmt ja auch alles, bis es nicht mehr stimmt und sich eine Spannung aufbaut, die anzieht wie ein straff gewordenes Tau. Und auf einmal alles in dir gut werden lässt, obwohl es schwer ist, nach innen gut zu sein, weil es sich nach außen immer noch besser sein lässt.

Jetzt hätten wir schon wieder fast das Essen vergessen. Das passiert ständig, wenn man keine Obacht gibt. Bei all der heißblütigen Einzigartigkeit unserer Romantik, der einzigartigen Romantik unserer Heißblütigkeit, im Namen der ganzen romantischen Verblödung, die das Leben nur so vorbeirauschen lässt mit all seinen Mahlzeiten, und man dasitzt und denkt, tausend Fragen in einer Nacht, man muss gut essen und man muss gut trinken. Auch wenn gut trinken blöd klingt. Es müssen nicht gleich saftige Braten sein, die an Spießen hängen und in Soße baden. Es muss auch kein falscher Kaviar sein. Es muss nur alles vor 15 Uhr geschehen, vamos pronto!, weil nach 15 Uhr keine portugiesische Taverne, die Wert auf Tradition und geregelte Mahlzeiten legt, ihren Herd für ein paar Verliebte anschmeißt.

Nur diesmal hatten wir Glück. Wir fanden ein Lokal mit schlichtem Äußerem, das im Hinterhof Plastikstühle zwischen Hauswand und Gartenzaun gestellt hatte. Die Sonne stand tief und warf große Ahornblätter auf unsere weiße Papiertischdecke. Es war spät am Nachmittag und wir hatten nur einen Tisch bekommen, weil wir so schön und hungrig aussahen. Der Kellner hinkte und brachte Knoblaucholiven und süßes Brot, warme Butter, harten Käse und eine große Flasche roten Portwein. 20 Umdrehungen, die dir die Geschmacksknospen anknipsen, bevor du auf hungrigen Magen Olive gesagt hast. Und erst dieser Hauptgang, wieder hinkend, aber dafür mit großen starken Armen, die große, schwere Pfannen trugen, in denen das Costeletão da Vaca in Olivenöl thronte. Das beste Fleisch, über das ich je schreiben durfte. Eine überlebensgroße Scheibe jener Kuh, die Hörner hat und nur grünes Gras frisst. Das Steak der Steaks, eine Reliquie aus den Lenden des heiligsten Hindu-Kults, die zu Rindfleisch gewordene Offenbarung. Etwas, dass dich auf ewig schädigt und mit wehmütigem Blick an den Speisekarten dieser Welt verzweifeln lässt, weil du nichts Ebenwürdiges mehr finden wirst. Weil du Erkenntnis gekostet hast.

Es kommt landkartengroß mit weißem Fett und manchmal mit Kartoffeln, wenn, so Gott will bei all der Heiligkeit, noch Platz für Kartoffeln in der brodelnden Pfanne übrig geblieben ist. Ein großer Knochen ist auch dran, den man sich später mit nach Hause nehmen kann. Wenn man zu zweit isst, sollte man sich dazu Corvina a Lagareiro bestellen. Auf keinen Fall noch mal Fleisch, weil sonst die Leber abstürzt. Essen sollte man das Ganze mit der Geschwindigkeit von Ebbe und Flut. Langsam, aber eines natürlichen Ausgangs gewiss, ohne große Umwege. Dabei kann man dann gemeinsam über das Fleisch sprechen und sollte ansonsten nur Belangloses in den Mund nehmen, damit sich der Geschmack nicht durch schwere Gedanken verdirbt. Ich kann leicht über Belangloses sprechen, wenn ich gut gearbeitet habe. Das schöne Wetter, den hinkenden Kellner, die besten Filme mit Harrison Ford. Sogar etwas zur Tagespolitik hörte ich mich sagen. Ich erzählte ihr von meinen Reisen. Nahost, Asien, Afrika, aber ich schwärmte von Prag. Eine Stadt, die sich nicht erahnen lässt, voller Fantasie steckt und gelber Straßenbeleuchtung. Die Gassen sind eng und schwer, die Gebäude monumental und über allem schwebt ein Nebel aus Schwermut. Die Moldau fließt wie eine aufgeschnittene Ader durch diese Stadt, die oft geschlagen wurde und trotzdem gut geraten ist. Kafka, Absinth, Judenverfolgung, Prager Frühling, Breton, Kopfsteinpflaster und dreckiger slawischer Sex. Eine angenehme Traurigkeit. Die Frauen haben blasse, komplizierte Gesichter und dunkle Seelen, genauso wie auch das Bier eine dunkle Seele hat. Donnerstag bedeutet in Prag kleiner Freitag, denn Tschechen wollen immer etwas zu feiern haben. Dienstags feiern sie, weil Dienstag ist, und Mittwoch, weil nach der Wochenmitte schon kleiner Freitag ist. Es ist ein Traum alter Tage, an den man sich kaum und gerne zurückerinnert. Slawisch mit Südländisch ersetzt. Nur nicht so verwahrlost wie die Slowakei oder die ganze um Atem ringende Urigkeit Ungarns. Muss ich mich jetzt schlecht fühlen? Nicht wegen des ganzen weißen Fettes, sondern Lissabon gegenüber? Nur, weil ich gerne ein paar Briefe aus Prag geschrieben hätte? Nicht weiß, wie die Sonne dort morgens auf die Plätze scheint und ich mich gerne mal von Prager Straßen in die Irre führen lassen würde? Im Mögen anderer Städte bin ich zuverlässig. Das hat rein gar nichts zu bedeuten. Außerdem bin ich dort nur Bahn gefahren, Treppen gestiegen und wollte mich in eine Kirche setzen, aber Gott war schon geschlossen. Mein Lissabon ist so viel mehr als das geworden. Mehr als nur ein erstes schönes Scheinen. Uns verbinden weit mehr als nur Sehenswürdigkeiten und Chinesen, die mit ihren Fotoapparaten sämtliche Attraktionen der Stadt erschießen. Wer von diesem Touristenpack weiß schon, dass man mit einem ão am Ende eines portugiesischen Wortes aus einem Costeleta, einem einfachen Kotelett, ein richtiges Costelatão, das Steak der Steaks, eine zu Rindfleisch gewordene Offenbarung machen kann. Umgedreht kann man mit der Endung inha einen Elefanten in eine Mücke verwandeln, oder aus einem Problem ein Problemchen machen. Genauso wie Becherovka in Tschechien oder Medronho in Portugal aus einem Problem ein Problemchen machen können.

Nach dem Aufessen war es vollbracht, das Fleisch bis auf den letzten Rest verspeist. Wir fühlten uns dreckig und kugelten uns in die roten Plastikstühle. Wir waren vom Fett erfüllt und lachten vom Trinken. Wir hatten alles um uns herum vergessen, aber uns und alles um uns herum mit Nachtisch und Portwein eingesaut. Wir bestellten Aguardente und zwei Tassen Kaffee und der Tag war erlebt.

Am Tag danach war Sonntag und ein Scheißtag. Ich saß an meinem mit Steckdosen und Marmor veredelten Schreibtisch und schrieb diese Geschichte fertig. Draußen war es grau und nass und deswegen sollte es auch in dieser Geschichte grau und nass enden. Es war der erste Herbsttag und der Wind kam von den Bergen in das Tal und das Tal wurde kaum richtig hell, bevor es wieder dunkel wurde. Die Luft war klar, weil es kalt war. Zwar gab es keine Geschäfte in der schmalen einspurigen Straße, aber man spürte, dass heute alles geschlossen sein würde. Ich ließ diesen Tag zum Tag unserer Abreise werden. Wir hatten ein bisschen gestritten, weil wir in der letzten Nacht an den Erwartungen unseres Hotelbetts gescheitert waren, und fuhren die schmalen einspurigen Straßen entlang der Leitplanken und die von den Spaghetti diktierten Kurven. Wir waren froh, die Erwartungen des Hotelbetts hinter uns gelassen zu haben, und hielten mitten in der Empfangslosigkeit, um uns auf einer grünen, von Kühen vollgekackten Wiese zu lieben. Wir waren noch froher, weil wir der Natur einmal wieder ein Schnippchen schlagen konnten und mit dem sexuellen Verlangen einer von Weidezäunen gezähmten Dschungelkatze übereinander herfielen. Hier wird diese Geschichte zum ersten Mal spannend. Nicht weil ich Sexuell gesagt habe, sondern weil man das ganze Leben in seiner partnerschaftlichen Verbundenheit auf einer milchgrünen Kuhweide kennenlernen sollte! Mit all seinen Höhepunkten und Probleminhas, die man allein gar nicht hätte. So ganz ohne Flucht. Wie ein Held, der sich einer aussichtslosen Schlacht stellt, einem unbesiegbaren Heer geschmackvoll zusammengestellter Inneneinrichtung, einem Imperium von Schlafzimmer, einem hüfthohen Marmortisch.

Der hohe Norden Portugals ist kein guter Ort für höhere Erwartungen. Man hört es ganz deutlich. Das fließende Wasser, das langsame Sprechen und das Brüllen noch nicht totgefahrener Hirsche. Wer aus diesem Tal zurück in die Digitalität kehrt, vorbei an immer größer werdenden Dörfern mit Breitbandverbindung, rechts Olivenhaine, links der Wein, wird richtig ankommen, weil er richtig weit weg gewesen ist. Wird zu erzählen haben, weil zwischen hohen Bergen in tiefen Tälern alle Gedanken beisammengeblieben sind, ohne versendet werden zu können. Als wir in der Digitalität ankamen und unsere Telefone oder das, was von ihnen noch übrig war, den unheilbaren Geist vollster Erreichbarkeit empfingen, musste ich an die Männer aus der Bar denken. An ihre ehrliche Arbeit, den Dreck unter ihren Nägeln, die Kraftausdrücke und all die ausdrucksstarken portugiesischen Wortendungen, die sie mir beibrachten, um die Kraftausdrücke noch zu verstärken. Aber auch an den heftigen Kater, der im Preis von polynesischen Cocktails enthalten ist, die von einem Engländer gemixt werden. Ich dachte an den Mann, der uns die Berge empfahl, weil wir gerne Dinge benutzen wollten, die keine Batterien brauchen, und wie fröhlich er mit seinem Autoschlüssel wedelte. Wie ein glücklicher Pudel, der fröhlich ist, weil er einer Sache nachgeht, die zwar nicht seine eigene ist, aber den Mercedes bezahlt hat, mit dem er uns den Weg in die Berge zeigte.

| KONSTANTIN ARNOLD

Konstantin Arnold, 28, freier Autor, wohnhaft in Lissabon, schreibt auch für deutsche Magazine, u. a. den ›Spiegel‹, und Tageszeitungen, so dass er sich freitags gute Oliven und portugiesischen Rotwein leisten kann. Er arbeitet an seinem zweiten Buch, ›Briefe aus Lissabon‹.

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