Stöckelschuhig und blaugrauwolkig. Was ein Geschenk alles bewirken kann

Jugendbuch | Yvonne Kuschel: Der Pullover. Eine Liebesgeschichte

Bei geschenkten Pullovern denkt jeder an etwas anderes: Dass er kratze, dass er einlaufe, dass er zu warm sei oder zu hässlich … Was der Pullover von Yvonne Kuschel bewirkt, hat GEORG PATZER gewundert und gefreut.

Yvonne Kuschel: Der PulloverWie schön: Geburtstag! Noch dazu an einem Sonntag. Neununddreißig Jahre ist er alt: »Er war immer noch alleinstehend, und der einzige Gast, den er zum Frühstück erwartete, war seine Mutter.« Mit einem großen Päckchen steht sie vor der Tür, im Rucksack hat sie richtigen Champagner.

Am Abend macht er dann das Päckchen auf: ein handgestrickter Pullover. Er mag keine Pullover, und seine Mutter hat ihm noch nie einen gestrickt: »Schon als Kind vertrug er keine Wolle auf der Haut. Er fand, sie kratzte und roch nicht gut.« Also lässt er ihn auf der Kommode liegen und wirft das kitschige Geschenkpapier einfach weg. Aber der Pullover hat ein eigenes Leben: »Wie eine Wolke, die es sich zum Ausruhen auf dem altmodischen Möbelstück gemütlich gemacht hatte, lag der Pulli da, ganz deutlich vom Bett aus zu sehen.« Lässt ihn nicht in Ruhe lesen, und er muss »an die Tiere denken, die die Wolle für das Kleidungsstück gespendet hatten, an die Landschaft, in der sie zu Hause waren, weit und grün, mit hohem Himmel darüber; an Wolken, die vorüberzogen, an Feldlerchen, die im Himmel Fangen spielten, an Insekten, die leise summend Blüten umflatterten auf der Suche nach Nektar«. Und schläft ein.

Und dann träumt er, natürlich von Schafen. Nächtelang. In der ersten erscheint ihm das Schaf Ramona, das ihn keines Blickes würdigt, einfach an ihm vorbei stolziert. Dann von Sophia, mit üppiger aprikosenfarbiger Wolle und zierlichen Stöckelschuhen. Im Traum fragt er noch, welche Schuhgröße sie hat: »Violette Größe«, sagt sie. In der dritten Nacht geht er über eine Wiese voller Blumen, Schafgarbe, Männertreu, Margeriten, Mohnblumen und Sauerampfer, und ein Schaf, das auf der Wiese liegt, sagt zu ihm: »Du stehst mir in der Sonne!« In der vierten trifft er das Schaf Susanne, das einen rosa Luftballon hinter sich herzieht. Dann träumt er von einer neuen Kollegin, Sonja, aber auch sie sieht aus wie ein Schaf. Die sechste Nacht … »Die sechste Nacht verstrich traumlos. Und obwohl er keine Schafe mehr sehen wollte, fühlte er sich nach dem Aufwachen wie betrogen.«

Träume sind eine seltsame Sache. Da verstricken sich reales Leben, Wünsche, Ängste und abenteuerliches Chaos zu einer Geschichte, die man oft nicht versteht. Dass unserem Helden Schafe erscheinen, ist noch klar: Der Pullover hat ihn dorthin geleitet. Aber dass sie dann schick sind wie Ramona und etwas hochnäsig, ist schon seltsamer. Und er denkt: »Eine Frau mit diesem Namen müsste eine interessante Person sein. Er kannte keine Ramona.«

Und so träumt er von lauter Frauen, die ganze Woche hindurch. Die neue Kollegin macht ihn, wie die meisten Frauen, schüchtern. Und auch vor der Nachbarin fürchtet er sich ein wenig: Als er sie am Sonntag auf der Treppe trifft, schaut sie ihn erwartungsvoll an. Er weiß aber nicht, was er sagen soll. Kein Wunder, dass er allein lebt.

Yvonne Kuschel hat ein bezauberndes kleines Bilderbuch geschrieben, über einen gehemmten Mann, der ein überraschendes Geschenk bekommt, mit dem er nichts anfangen kann. Das ihn in seinem normalen, durchstrukturierten Leben stört. Ihn umtreibt, bis er nach sieben Träumen plötzlich merkt, was dieses Geschenk tatsächlich bedeutet. Nicht umsonst trägt die Geschichte den Untertitel »Eine Liebesgeschichte«.

Putzig ist nicht nur die Geschichte, auch wenn der Schluss dann allerdings ein bisschen zu kitschig ist, zu arg an den schafigen Wollhaaren herbeigezogen, um so richtig befriedigen zu können. Putzig und nett sind auch die Illustrationen, die uns die Schafe in ihrer vollen Pracht zeigen: klein und dicklich und aprikosenfarben, stöckelschuhig und hochnäsig, blaugrauwolkig, selbstbewusst, ballonspielend oder blumenfressend. So wie Schafe eben sind, die einem durch die Träume blöken.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Yvonne Kuschel: Der Pullover. Eine Liebesgeschichte
Mannheim: Kunstanstifter Verlag, 2018
48 Seiten. 24 Euro
Bilderbuch ab 13 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Unsichere Verhältnisse

Nächster Artikel

Kammerspiel des Bösen

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

»Denn es ist alles eins«

Jugendbuch | Kelly Barnhill: Das Mädchen, das den Mond trank Eigentlich funktionieren doch die meisten Märchen nach dem gleichen Prinzip: Es gibt das Gute und das Böse. Das Böse erringt zunächst einen Teilsieg gegen das Gute, aber am Ende gewinnt das Gute. Dass das alles nicht so einfach ist, zeigt Kelly Barnhills märchenhafter Fantasyroman. Von ANDREA WANNER

Wilde Jagd

Jugendbuch | Sandra Greaves: Draußen im Moor Gibt es das Böse? Gibt es Flüche, die eine Familie ruinieren können? Sandra Greaves gelingt es, gleich mit ihrem Debütroman nicht nur ein herbstdüsteres Dartmoor, sondern die ganze Wilde Jagd samt ihrem teuflischen Vorreiter auf höchst bedrohliche, weil überzeugende Weise lebendig werden zu lassen. Von MAGALI HEISSLER

Getrübte Wahrnehmung

Jugendbuch | Sina Flammang: Mädchen aus Papier Ein Schock kann dazu führen, dass man weder sich noch die Umgebung realistisch wahrnimmt. Das eigene Verhalten ändert sich dementsprechend. Sina Flammang erzählt eine solche Geschichte nicht nur von einem, sondern gleich von mehreren Teenagern, die infolge eines Schocks seelisch verletzt sind. Von MAGALI HEIẞLER

Allerliebste Petitessen

Gedichte | Michael Roher: Wer stahl dem Wal sein Abendmahl? Der Wal muss hungrig zu Bett? Geht ein Wal überhaupt ins Bett? Und was hätte es überhaupt gegeben? Dass der Wal sich kein bisschen darüber geärgert hat, sei verraten. Aber nicht, wer der Täter war. Das muss man selber rausfinden. Ganz am Ende eines wundervollen kleinen Buchs findet ANDREA WANNER die Lösung.

Aus dem Nähkästchen geplaudert

Jugendbuch | Riad Sattouf: Esthers Tagebücher Esther erzählt aus ihrem Leben. Frisch, frech, selbstbewusst. Kein Thema, das nicht irgendwann irgendwie irgendwo aufploppt. In die »geheime Welt einer Jugendlichen« einzutauchen, fand ANDREA WANNER ungemein spannend.