Eisiges Schweigen

Roman | Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel

»Er saß in seinem mit Kissen und Windeln ausgepolstertem Sessel, klein, grau, entrückt in die Moränenlandschaft seiner zerstörten Gefäße, in denen er dem Tropfen einer unendlichen Zeit nachzuspüren schien.« So beschreibt Natascha Wodin die letzten Tage ihres 1989 verstorbenen Vaters. Vor einem Jahr war sie für ›Sie kam aus Mariupol‹, eine literarische Annäherung an ihre Mutter, mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Von PETER MOHR

Irgendwo in diesem Dunkel - 350Natascha Wodins literarisches Werk hat einen durchgehend autobiografischen Background. Schreiben bedeutet für sie stets auch Selbstvergewisserung, Befreiung und Traumabewältigung.

Im Dezember 1945 kam sie in Fürth als Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter in einem Lager für »Displaced Persons« zur Welt. Die Mutter beging 1956 Selbstmord, der gewalttätige, dem Alkohol zugewandte Vater, der als Tenor im Chor der Donkosaken seine Familie mehr schlecht als recht über Wasser hielt, überlebte sie um mehr als dreißig Jahre. Er lebte in einer selbst gewählten Isolation, hat nie Deutsch gelernt und wenig soziale Kontakte gepflegt.

Anders als im Vorgängerwerk hat sich Natascha Wodin im Rückblick selbst stark mit in die Handlung einbezogen – immer am unnahbaren Vater scheiternd. Irgendwann wirft der Vater sie raus, und das junge Mädchen streunt durch die Gegend. Sie stiehlt und lügt, bettelt und betrügt, führt ein Leben am Abgrund. Schließlich wird sie vergewaltigt und treibt das Kind selbst ab. Diese extrem detaillierte Beschreibung ist nichts für zartbesaitete Gemüter, gehört aber zu Natascha Wodins knallhartem, authentisch-dokumentarischen Stil.

»Ich wollte so sein wie sie, in meiner Deutschwerdung sah ich meine Menschwerdung, und es ist im Grunde die Geschichte dieser Verwechselung, die ich hier erzähle«, hieß es in Wodins 1989 erschienenem Roman Einmal lebt ich, aus dem der innige Wunsch des jungen Mädchens, in der neuen fränkischen Umgebung dazugehören zu wollen, auch in diesem Buch grell durchscheint.

Die heute 72-jährige Natascha Wodin geht selbstzerfleischend, absolut schonungslos vor und erkundet eigene Grenzen beim Versuch, den verhassten Vater als Teil des eigenen Lebens anzunehmen. Trotz der schrecklichen Kindheit und Jugend bemüht sie sich um einen gemäßigten Ton – frei von Hass und Selbstmitleid. Im Zentrum steht die Ohnmacht einer doppelt Ausgegrenzten, die von der Gesellschaft (als »Russenkind«) und von der Familie gleichermaßen an den Rand gedrängt und missachtet wurde.

Über allem thront geradezu drohend die Omnipräsenz des Schweigens – in der Familie über die russisch-ukrainische Herkunft, draußen im Alltag über die oft unausgesprochenen Feindseligkeiten gegenüber Fremden und über die ungesühnten Verbrechen, die an unzähligen Zwangsarbeitern begangen wurden.

Der Vater bleibt ihr bis zum Schluss fremd, obwohl sie ihn bis zu seinem Tod regelmäßig besucht hat. Sie fanden bis zum Ende keine gemeinsame Sprache. Nur das eisige Schweigen und der leere Blick bleiben als Erinnerungen.

›Irgendwo in diesem Dunkel‹ ist ein hartes und düsteres Buch, aber dem eigenen (Er)-Leben so präzise abgelauscht, dass die Lektüre beinahe körperliche Schmerzen bereitet.

| PETER MOHR

Titelangaben
Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2018
239 Seiten, 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

For ever …

Nächster Artikel

Alles auf Anfang

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Relikte aus dem Kalten Krieg

Krimi | Oliver Harris: London Underground Nach London Killing (Blessing 2012), dem hochgelobten Debüt des britischen Autors Oliver Harris (Jahrgang 1978), liegt jetzt mit London Underground der zweite Fall für Detective Nick Belsey auf Deutsch vor. Diesmal bekommt es der Mann mit der dunklen Seite seiner Heimatstadt zu tun, muss hinunter in Schächte, geheime Atombunker und vergessene Bahnstationen, um eine Rachegeschichte aufzudecken, die zurückreicht bis in die Hochzeiten des Kalten Kriegs. Spannend, wendungsreich und aktueller, als man denkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Hoch über dem See

Roman | Bodo Kirchhoff: Seit er sein Leben mit einem Tier teilt

»Er lässt kaltes Wasser über sich laufen, minutenlang, als könnte es ihn so auflösen wie den Schweiß auf seiner Haut und im Abfluss verschwinden lassen«, heißt es über Louis Arthur Schongauer, die Hauptfigur in Bodo Kirchhoffs neuem Roman. Schongauer steht kurz vor seinem 75. Geburtstag, hat zwei Frauen auf tragische Weise verloren und sich in ein abgelegenes Haus über einem See zurückgezogen. Ein See, der dem Gardasee, wo Autor Kirchhoff einen Zweitwohnsitz hat, nicht unähnlich ist. Von PETER MOHR

Kein Ort für Gott

Roman | Johannes Groschupf: Die Stunde der Hyänen

Der polnische Fernfahrer Radek Malarczyk hat Glück: Als ein Unbekannter seinen VW Bulli, in dem er seit einiger Zeit auf Berliner Parkplätzen übernachtet, in Brand steckt, gelingt es ihm, gerade noch mit dem Leben davonzukommen. Der Journalistin Jette Geppert erzählt er daraufhin im Unfallkrankenhaus eine Geschichte von Schuld und Sühne. Die junge Frau Anfang 30 steckt selbst gerade mitten in einer Krise. Doch das Angebot der Polizistin Romina Winter, sich ihr anzuvertrauen, schlägt sie vorerst in den Wind. Und währenddessen glaubt ein junger Postbote dazu bestimmt zu sein, dem über die Stadt herrschenden Satan mit Feuer entgegentreten zu müssen. Johannes Groschupfs drittem Berlin-Roman gelingt auf beeindruckende Weise das Porträt einer Stadt, in der die Widersprüche unserer Zeit und unserer Gesellschaft wie nirgendwo anders in Deutschland zutage treten. Von DIETMAR JACOBSEN

Von der Kröte aus der Kirche gelockt

Roman | Joyce Carol Oates: Die Verfluchten »Ich habe all diese hässlichen Wörter einfach hingeschrieben und bin dabei allmählich in Fahrt gekommen. Ein stiller Schreibrausch hat mich erfasst.“, ließ die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates eine Figur in ihrem Roman Zombie (dt. 2000) erklären. Ob es beim Lesen des neuen Romans Die Verfluchten ebenfalls zu einem »rauschhaften« Erleben kommt, erklärt PETER MOHR

Ungleiche Freunde

Roman | Torsten Schulz: Nilowsky Torsten Schulz’ neuer Roman Nilowsky portraitiert Berlin und schwierige Beziehungen seiner Bewohner. Gelesen von PETER MOHR