Eine Quelle ersten Ranges

Tagbücher | Edition der Beneke-Tagebücher

Wenn ein bedeutender Zeitzeuge über fünf Jahrzehnte hinweg tagtäglich Aufzeichnungen über seine Erlebnisse, Begegnungen und Überlegungen macht, so ist das schon ungewöhnlich genug und verdient allergrößte Beachtung. Ist dieser Tagebuchschreiber aber dazu noch ein einflussreicher Jurist und Politiker, so darf man von seinen Notaten gewichtige Aufschlüsse nicht nur über seine Person, sondern mehr noch über seine ganze Epoche erwarten. Das ist in der Tat der Fall bei Ferdinand Beneke (1774-1848), dem in Hamburg wirkenden Juristen und überzeugten Republikaner, dessen gewaltiges Tagebuchwerk bereits in zwei Buchkassetten vorliegt und jetzt vom Wallstein Verlag um eine weitere Sektion ergänzt worden ist. Von PETER ENGEL

Beneke - TagebücherIn den acht neuen Bänden geht es um den Zeitraum von 1802 bis 1810, der ganz im Zeichen von Napoleons Machtpolitik stand und für Hamburg die Besetzung durch französische Truppen mit entsprechenden Drangsalierungen bedeutete. Die politischen Ereignisse in jener Dekade brachten Beneke in engen Kontakt mit preußischen Patrioten und Reformern, mit denen er – aus französischer Sicht – teilweise sogar in konspirativer Verbindung stand. Aber nicht nur die große Politik beschäftigte ihn in jenen Jahren intensiv, auch sein privates Glück stand auf dem Spiel, denn er hatte nach den Höhen und Tiefen einer unerfüllten Liebe endlich heiraten und einen eigenen Hausstand gründen können.

In den buchstäblich täglich geführten Notizen, die mitunter auch sehr ausführlich sind, erlebt man den Juristen und Familienvater bei seinen täglichen Verrichtungen, wobei das Private und das öffentliche Wirken eine bunte und sich gegenseitig bedingende Mischung eingehen. Die Aufzeichnungen sind damit nicht nur eine Quelle ersten Ranges für die Hamburger Stadtgeschichte, sondern nicht minder interessant für die deutsche Kulturgeschichte jener Zeit überhaupt und spiegeln in dieser Doppelfunktion das gehobene Bürgertum, das sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung zunehmend bewusster wird.

Durch seine zahlreichen Beziehungen zu Menschen aus allen Schichten der Stadtbevölkerung und durch seine brieflichen Kontakte mit Intellektuellen im ganzen deutschen Sprachbereich war Beneke so »vernetzt« wie nur wenige Exponenten seiner Epoche. In diese vielfältigen Verflechtungen leuchten seine genauen und pointierten Aufzeichnungen hinein, sodass der Leser ein farbiges und detailfreudiges Bild jener Jahre gewinnt, in denen sich der Übergang von der Spätaufklärung zur Romantik vollzog. Beneke war beispielsweise am 22. März 1803 Zeuge des langen Trauerzugs für den damals hochverehrten Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock und erlebte mit, wie zahlreiche Menschen dem Sarg durch die ganze Stadt folgten. Auch den Juristen ergriff angesichts der ganz ungewöhnlichen Anteilnahme der Bevölkerung die »innigste Rührung«, wie er noch am gleichen Tag notierte.

Eher am Rande erlebte Beneke mit, wie der Goethe-Maler Wilhelm Tischbein in der Hansestadt eine Zeichenschule zu gründen versuchte, nachdem er 1799 vor napoleonischenTruppen aus Neapel in deutsche Lande geflohen war und seit 1802 in Hamburg lebte. Auch der städtische Klatsch in den »besseren« Schichten Hamburgs kommt in den Aufzeichnungen des Juristen nicht zu kurz, und namentlich die örtliche Damenwelt findet sein besonderes Interesse. So registriert er etwa erfreut, dass ihn eine umschwärmte hanseatische Schönheit wie die Madame van Nuys, eine »immer Sieggewohnte«, mit einer Einladung ehrt, aber er ist durch ihr souveränes Auftreten eher etwas verunsichert und traut der Sache nicht recht, hält sich dann lieber an die »viel liebenswürdigere« Tochter. Solche Schlaglichter auf die Sittengeschichte der Stadt würzen die Aufzeichnungen zusätzlich.

Wie stark Beneke in die Hamburger Politik eingebunden war, zeigt etwa der Umstand, dass er 1802 in einem Ausschuss der 1765 gegründeten Patriotischen Gesellschaft an der Erarbeitung des Entwurfs für eine neue Staatsverfassung beteiligt war. Aber dieses Wirken wurde unterbrochen, als Truppen Napoleons am 12. November 1806 die Hansestadt besetzten. Nach anfänglicher Verkennung sah Beneke in dem Korsen mehr und mehr den Tyrannen, der republikanische Errungenschaften außer kraft setzte und gegen den der Jurist, zusammen mit anderen Patrioten aus den deutschen Ländern, den Widerstand zu mobilisieren versuchte. Am Ende der napoleonischen Epoche gehörte er denn auch zu den entscheidenden Handlungsträgern, die die Befreiung Hamburgs vom »französischen Joch« erreichten. 

Nachdem jetzt durch die neu vorgelegte Sektion die Beneke-Tagebücher für den Zeitraum von 1792 bis 1816 geschlossen vorliegen, darf man auf die restlichen Bände gespannt sein und wird dann ein Editionsunternehmen abschließend würdigen können, das seinesgleichen in Deutschland nicht hat.

| PETER ENGEL

Titelangaben
Ferdinand Beneke: Die Tagebücher II (1802-1810)
Hg. von Frank Hatje und anderen
Göttingen: Wallstein Verlag 2019
3.904 S., 204 Abb., 128 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Halb Engel, halb Teufel

Nächster Artikel

Not the great Hippie-Swindle

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Auf der Suche nach der »Nazi-Persönlichkeit«

Menschen | Jack El-Hai: Der Nazi und der Psychiater Autorenglück ist, wenn sich eine heiße Story als Matrjoschka entpuppt, aus der während der Recherchen eine zweite, mindestens genauso heiße Story kullert. So ging es dem US-amerikanischen Journalisten Jack El-Hai bei den Vorarbeiten zu seinem Buch über Walter Freeman, ›The Lobotomist‹ (2005). Der Psychiater und Neurologe Freeman hatte der Lobotomie als Mittel gegen psychische und sonstige Störungen zur Popularität verholfen und sich nebenbei für von eigener Hand gestorbene Kollegen interessiert. Insbesondere für einen: Douglas Kelley, heute nur noch Fachkreisen geläufig, aber um die Mitte des letzten Jahrhunderts ein Star. El-Hai horchte

Ich bin mir selbst ein Rätsel

Menschen | Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Hartmut Lange »Es ist die Kunst, die es uns ermöglicht, die Grenze vom Leben zum Tode niederzureißen«, heißt es – durchaus charakteristisch für Hartmut Langes gesamtes Werk – in der Novelle ›Die Cellistin‹. Heute wird der Individualist und Sprachvirtuose 80 Jahre alt. Von PETER MOHR

Aufbruch und sinnliche Ekstase

Menschen | Zum 75. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Jean-Marie Gustave Le Clézio   Als Jean-Marie-Gustave Le Clézio im Oktober 2008 völlig überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, rühmte ihn die Stockholmer Akademie als »Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase – ein Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation.« Die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit reagierte damals mit Unverständnis. Marcel Reich-Ranicki erklärte, dass er den Autor nicht kenne, Sigrid Löffler bezeichnete die Jury-Entscheidung als »bizarr«. Von PETER MOHR

Nacktes Grauen selbst erlebt

Menschen | Karl Marlantes: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Als Karl Marlantes 1968 für die USA in den Vietnamkrieg zieht, hat er die typischen Motive der meisten Soldaten: Er will seine Männlichkeit beweisen, er will raus aus dem Einerlei, sehnt sich nach etwas »Höherem«. Nicht nur mit Tapferkeitsorden kommt er zurück – seine Lebensbilanz »Was es heißt, in den Krieg zu ziehen« sucht nach einem Moralkodex für Kriege. Hochaktueller Stoff für hier und heute, wo es wieder mal nach einem Sieg säbelrasselnder Dummheit riecht. Von PIEKE BIERMANN

Mehr als nur ein Mythos

Menschen | Matabane / Abramsky / Beetz: Madiba. Das Vermächtnis des Nelson Mandela Auch nach seinem Tod im Dezember 2013 gilt Nelson Mandela als Symbol für das gewaltfreie Ende des Apartheidsregimes und die demokratische Befreiung Südafrikas. Nicht der Mythos, der sich um seine Person rankt, sondern der Mensch Mandela steht im Mittelpunkt des Buchs von Khalo Matabane, Sasha Abramsky und Christian Beetz. 29 Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft kommen darin zu Wort und schaffen ein facettenreiches Porträt des charismatischen Friedensstifters. Von STEFFEN FRIESE