Sex, Lügen und Schwindel-Attacken

Roman | Leïla Slimani: All das zu verlieren

Die Pariser Journalistin Adèle ist Mitte dreißig und kultiviert ihre Blässe und Ausgezehrtheit als Ausdruck der Selbstdarstellung – doch sie droht, an ihren verborgenen Obsessionen zu zerbrechen. Im Hintergrund lauert stets das Wissen um die Brüchigkeit ihrer Existenz, die vernichtende Angst, All das zu verlieren: Ehe und Mutterschaft, Beruf und Lebensstil. Leïla Slimani entwirft ein zeitgenössisches Sittenbild mit all seinen Rissen und Verwerfungen. Von INGEBORG JAISER

Leïla Slimani: All das zu verlierenFranzösische Mütter sind elegant, selbstbewusst und rund um die Uhr gutaussehend; ihr Nachwuchs selbstverständlich wohlerzogen und stets vorzeigbar – so wollen es uns nicht nur die deutschen Frauenzeitschriften weismachen. Doch Leïla Slimani torpediert das beschönigende Idealbild, macht radikal Schluss mit den beharrlichen Klischees in unseren Köpfen. Nicht umsonst wurde ihr herber Psychothriller Chanson Douce (in deutscher Übersetzung: Dann schlaf auch Du), der eine ungute Dreiecksgeschichte zwischen Eltern, Kindern und Nanny erzählt, mit dem begehrten Prix Goncourt ausgezeichnet.

Nun ist auch ihr bereits 2015 erschienener Debütroman in deutscher Übersetzung herausgekommen. All das zu verlieren räumt gründlich auf mit den Stereotypen der scheinbar erfolgreichen, lässigen Französin, die das ganz bestimmte Etwas verkörpert.

Manie und Zwänge

Adèle Robinson kann sich glücklich schätzen: ihr Ehemann Richard verdient als angesehener Chirurg das nötige Kleingeld, um eine schicke Wohnung im 18. Pariser Arrondissement und ein angenehmes Leben mit Champagner und Wochenendausflügen ans Meer zu finanzieren, ihr kleiner Sohn Lucien verbringt die meiste Zeit in der Kita und sie selbst gibt bei ihrem Job in der Zeitungsredaktion längst nicht mehr ihr Bestes, langweilt sich schon fast. Denn der Sinn steht ihr eher nach Dekadenz, Ausschweifung, Ablenkung. Genau genommen nach hartem Sex mit Unbekannten. Nach dem puren Gegenteil von romantischen Dates, sanften Andeutungen und zarten Berührungen. »Ihr geht es bei dem Job nur um die Freiheit, die sie als Journalistin genießt. Sie verdient schlecht, aber sie kommt in der Welt herum. Sie kann verschwinden, geheime Treffen vortäuschen, muss sich nicht rechtfertigen.«

Das Arrangement geht jahrelang gut. Während ihr Ehemann Doppelschichten im Krankenhaus fährt, ihr kleiner Sohn mal bei einer Freundin, mal in der Kita geparkt wird, gibt sich Adèle schamlos ihren Obsessionen hin. Geheime Treffen in drittklassigen Hotels und schmierigen Bars, schneller Sex mit abgehalfterten Typen, Betäubung durch Wodka und Joints. Das kann schon mal in brutale Gewalt ausarten. In einer diffusen Vermengung von Abscheu und Lust staunt sie über »dieses magische Gefühl, das Niedere und Obszöne, die bourgeoise Perversion und das menschliche Elend so mit der Hand greifen zu können.«

Chronik einer vernichtenden Krankheit

Spaß macht dies alles nicht. All das zu verlieren scheint von einem düsteren Grau, einem zähen Überdruss überschattet zu sein. Unverhohlen seziert Leïla Slimani ein Doppelleben, das allein von Zwängen getrieben wird. Messerscharf spalten schonungslose Schilderungen ein mühsam zusammengehaltenes Lebensmuster auf. Lange taumelt Adèle durch Rausch und Benommenheit, halb von Sinnen. »Schwindel ist etwas anderes als Angst vor dem Fall. Schwindel bedeutet, dass uns die Tiefe anzieht und lockt« wird aus Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zitiert.

Doch Adèle ist meilenweit von jeglicher Leichtigkeit entfernt, wird eher von der Wucht ihrer Süchte niedergezwungen. Sie ist sexsüchtig, magersüchtig, süchtig nach Aufmerksamkeit. Sie hungert nach Anerkennung und »hat ihre Magerkeit kultiviert wie eine Lebenskunst.« Längst zeigen sich alle Anzeichen einer Abhängigkeit: Kontrollverlust, Tendenz zur Dosissteigerung, körperlicher und psychischer Verfall.

Auch wenn man diesen Gesellschaftsroman als moderne Ehebruchsgeschichte in der Tradition von Madame Bovary lesen kann, ist er vielmehr die Chronik einer vernichtenden Krankheit, das Psychogramm einer kaputten Seele. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände driftet Richard in einen folgenschweren Verkehrsunfall und Adèle in die endgültige Entlarvung ihrer Lebenslügen. Als sich dennoch ein vages Happy End anbahnt, wirkt es falsch und trügerisch. Einen passenden Schluss mag sich jeder Leser selbst ausmalen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Leïla Slimani: All das zu verlieren
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
München: Luchterhand 2019
218 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ab ins Bett!

Nächster Artikel

Ziemlich viel Glück

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Zehn Tage für die Jagd auf einen Mörder

Roman | Jo Nesbø: Blutmond

Nach seinem letzten Fall ist Harry Hole wieder einmal aus Oslo verschwunden. Nichts hielt ihn mehr in der Heimat nach der Ermordung seiner Frau und dem Freitod eines zwielichtigen Kollegen und ehemaligen Freundes. Doch nach wie vor wird der Mann gebraucht, wenn es die heimische Polizei mit einem Serientäter zu tun bekommt. Und so wundert es auch nicht, dass Hole nach der brutalen Ermordung zweier junger Frauen plötzlich wieder da ist. Aber er arbeitet diesmal nicht für die Osloer Polizei, sondern im Auftrag jenes Mannes, den Ermittlungsorgane und Presse für dringend verdächtig halten, die beiden Frauen getötet zu haben. Und Hole hat noch dazu wenig Zeit. Denn in Los Angeles hat er ein Versprechen gegeben, das er unbedingt zu halten gedenkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Moral auf der Briefwaage

Roman | Maxim Biller: Der falsche Gruß

Findet in diesem Herbst das große Hinterfragen moralischer Kategorien bei den Schriftstellern der mittleren Generation statt? Eva Menasse hat sich in ihrem opulenten Opus Dunkelblum mit einem dunklen Kapitel der Geschichte im Burgenland auseinander gesetzt, Johanna Adorján beschäftigte sich in ihrem Roman Ciao mit Veränderungen im Feuilleton-Betrieb, und nun deckt der große Provokateur Maxim Biller mit seinem kurzen, novellenhaften Roman gleich beide Bereiche ab – das Geschichtsbewusstsein und den Kulturbetrieb. Von PETER MOHR

David muss sterben

Roman | J. M. Coetzee: Der Tod Jesu Zum 80. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers J.M. Coetzee am 9. Februar erscheint der Roman ›Der Tod Jesu‹. PETER MOHR über den gefeierten Schriftsteller, der lange Zeit ein Geheimnis um seine Vornamen machte.

Stets im Dienst, oft zu Tisch

Roman | Manfred Wieninger: Rostige Flügel Wer aufgrund eines unumgänglichen Termins gezwungen ist, eine Folge seiner Lieblingsserie zu verpassen, der steht in der Regel ziemlich auf dem Schlauch. Warum und wann Jacqueline ihren Nachbarn Georg geheiratet hat, das lässt sich im Nachhinein nur noch schwerlich nachvollziehen. Von STEFAN HEUER

Der alte Herr Updike lässt grüßen

Roman | Michael Kleeberg: Vaterjahre Da ist er wieder, der bieder-selbstzufriedene Langweiler Charly (Karlmann) Renn aus Michael Kleebergs Roman Karlmann  (2007). Den »Karlmann« aus den 1980er Jahren, auf diesen altfränkischen Vornamen hatte ihn sein hanseatischer Vater einst taufen lassen, hat Renn längst hinter sich gelassen. Er ist älter geworden, hat das von seinem Vater geerbte Autohaus versilbert, ist in zweiter Ehe mit einer fürsorglichen Ärztin verheiratet und inzwischen Vater von zwei Kindern. Nun legt Michael Kleeberg den neuen Roman ›Vaterjahre‹ vor. Von PETER MOHR