/

Zehn Tage für die Jagd auf einen Mörder

Roman | Jo Nesbø: Blutmond

Nach seinem letzten Fall ist Harry Hole wieder einmal aus Oslo verschwunden. Nichts hielt ihn mehr in der Heimat nach der Ermordung seiner Frau und dem Freitod eines zwielichtigen Kollegen und ehemaligen Freundes. Doch nach wie vor wird der Mann gebraucht, wenn es die heimische Polizei mit einem Serientäter zu tun bekommt. Und so wundert es auch nicht, dass Hole nach der brutalen Ermordung zweier junger Frauen plötzlich wieder da ist. Aber er arbeitet diesmal nicht für die Osloer Polizei, sondern im Auftrag jenes Mannes, den Ermittlungsorgane und Presse für dringend verdächtig halten, die beiden Frauen getötet zu haben. Und Hole hat noch dazu wenig Zeit. Denn in Los Angeles hat er ein Versprechen gegeben, das er unbedingt zu halten gedenkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Bei der Osloer Polizei ist man nicht gut auf Harry Hole zu sprechen: »Illoyalität. Grobe Dienstvergehen. Trunkenheit, er ist Alkoholiker, Drogenmissbrauch. Er ist schuld am Tod von mindestens einem Kollegen, wurde aber nie belangt.« Kurz gesagt: »eine total abgewrackte Gestalt«, mit der man eigentlich nichts mehr zu tun haben möchte.

Da sich Hole nach dem Tod seiner Frau außerdem nach Los Angeles abgesetzt hat, scheint die Chance seiner ehemaligen Kollegin Katrine Bratt, den Mann, der als Spezialist für die Ergreifung von Serientätern gilt, für einen aktuellen, die Öffentlichkeit beunruhigenden Fall als Experten zurückzuholen, ohnehin nur gering zu sein. Doch Jo Nesbøs legendärer Held, der in den USA Gefahr lief, völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren, taucht eines Tages trotzdem wieder auf. Und beginnt sofort ebenfalls in dem Fall, an dem sich seine Ex-Kollegin gemeinsam mit einem Ermittler des nationalen Kriminalamts gerade abarbeitet, zu ermitteln.

Im Auftrag eines Millionärs

Blutmond ist der dreizehnte Roman des norwegischen Bestsellerautors rund um seinen auf Serientäter spezialisierten Helden. Der hat seit seinem ersten Auftauchen in Nesbøs Romanwelt – 1997 in Der Fledermausmann – schon einiges durchgemacht: Höhen und Tiefen, Aufs und Abs, (kurze) Glücksmomente und (lange) Zeiten von Verzweiflung und Selbstaufgabe. Diesmal kommt er allerdings in einer eher ungewöhnlichen Rolle nach Oslo zurück, nämlich als Konkurrent für seine früheren Mitstreiter bei den norwegischen Ermittlungsorganen.

Die haben den millionenschweren Immobilienhai Markus Røed bei ihren Ermittlungen im Fall zweier brutal ermordeter junger Frauen, für die der 30 Jahre ältere Røed den »Sugardaddy« gespielt hat, als Täter im Visier. Und weil dem Mann der Fokus auf seine Person geschäftlichen Schaden zu verursachen beginnt, soll Hole in seinem Auftrag nun den wahren Killer finden.

Allein Harry hat nur zehn Tage Zeit. Denn diesen Zeitraum hat ein mexikanisches Kartell ihm eingeräumt, um die eine Million Dollar aufzutreiben, die die Ex-Schauspielerin Lucille Owens den Gangstern schuldet. Und Hole will der inzwischen fast Achtzigjährigen, die in ihrem Leben nicht viel Glück, dafür umso mehr schlechte Drehbücher gehabt hat, gerne helfen, weil er sich ihr nahe fühlt und sie ihn ein bisschen an seine Mutter erinnert. Und wie die Maus, die er eines Morgens nach dem Erwachen dabei beobachtet, wie sie ohne zu zögern auf eine Katze zu und damit in ihr Verderben rennt, macht er sich auf in seine alte Heimat.

Ein neues Katz-und-Maus-Spiel

Das sorgt erst einmal für ein wenig Unruhe bei Oslos Polizei und anderen mit dem Fall der ermordeten Frauen befassten Ermittlungsbehörden. Denn schließlich weiß man bei seinen alten Freunden wie auch Feinden ganz genau: Wenn Hole seine Hände im Spiel hat und in einem Fall ermittelt, an dem man selber sich gerade die Zähne ausbeißt, sorgt das für Druck von allen Seiten.

Und dieser nimmt sogar noch zu, als bekannt wird, wen sich der Einzelgänger für das Team ausgesucht hat, mit dem er gegen seine staatlich finanzierten Konkurrenten antreten will: einen suspendierten Exkollegen, der ihm, als er noch für Oslos Polizei arbeitete, nicht gerade freundschaftlich gesonnen war, einen kokaindealenden alten Schulfreund und einen an Krebs erkrankten Psychologen, der seine Ratschläge aus dem Krankenhausbett heraus gibt. Fürwahr eine Mannschaft, der man auf den ersten Blick nicht allzu viel zutraut, die aber freilich auch von einem Mann zusammengehalten wird, der im Laufe der Ermittlungen mehr und mehr zu alter Form aufläuft.

Dieser Form bedarf es allerdings auch, um einen Täter aufzuspüren und unschädlich zu machen, der zu den perfidesten Gestalten zählt, hinter denen Harry Hole je her war. Einen Mann, der vor nichts zurückschreckt, um seine unmenschlichen Pläne in die Tat umzusetzen. Und der sich seine Opfer zunehmend in Holes unmittelbarer Umgebung sucht. Wendungsreich kommt das daher, mit den für Nesbøs Romane typischen Wendungen und Schockmomenten, wobei Letztere nicht jedermanns Sache sein dürften, aber bei diesem Autor wohl einfach dazugehören.

Der nächste Serienmörder kommt bestimmt

Ist Harry Hole Nummer 13 der letzte Harry Hole? Es sah in Nesbøs Bestseller-Reihe schon öfter danach aus, als müsste man sich nun für immer von dem Osloer Ermittler mit den strahlend blauen Augen und seinem periodisch auftretenden Alkoholismus verabschieden. Allein er kam immer wieder zurück. Aus Hongkong, von dem für ihn so gar nicht charakteristischen Posten als Dozent der Osloer Polizeihochschule und nun auch aus seinem amerikanischen Exil. Also darf man sicher hoffen – und ein kleiner, schockierender Cliffhanger bereitet auch schon geschickt darauf vor –, dass es weitergeht. Der nächste Serienmörder kommt bestimmt. Und wer anders sollte den zur Strecke bringen können außer Harry Hole?

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Jo Nesbø: Blutmond. Harry Hole ermittelt
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Berlin: Ullstein Verlag 2022
542 Seiten. 25,99 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

| Mehr zu Jo Nesbø in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Passt?

Nächster Artikel

Staunen, was Kunst kann

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Aus dem Ruder gelaufen

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Der Maulwurf (MDR), 21. Dezember Friedhöfe erfreuen sich außergewöhnlicher Beliebtheit, sie liegen voll im Trend, ehrlich. Wer auf sich hält, fühlt sich heimisch auf dem Père Lachaise, dem St. Louis Cemetery No. 1 und dem Zentralfriedhof an der Simmeringer Hauptstraße, längst gibt es wie die Liste der fünfzig, wahlweise hundert größten Fußballstadien eine ähnliche Liste von Friedhöfen, die man einen nach dem anderen bereist, auf der To-do-Liste abhakt und gern auch mit Selfies ausstattet, Jim Morrison für die Jüngeren oder Hans Albers für die Älteren, das Jenseits organisiert sich bestens und liefert für jeden.

Wein und windige Websites

Roman | Deon Meyer: Icarus Die Leser von Deon Meyer haben mit Bennie Griessel schon einiges durchgestanden – private Enttäuschungen, Rückschläge im Beruf und Alkoholentzug. Aber immer hat sich der weiße Polizist vom Kap wieder aufgerafft. Und er hatte Menschen, die ihm dabei zur Seite standen. Befreundete Kollegen, die Sängerin Alexa Barnard, mit der er liiert ist, seine beiden Kinder, zu denen er losen Kontakt hat. Doch als er im aktuellen Roman Icarus erleben muss, wie einer seiner Kollegen sich selbst, seine Frau und seine beiden Töchter erschießt, weil er die eskalierende Gewalt um sich herum nicht mehr ertragen kann,

Der vierte Streich des Rentnerclubs

Roman | Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

Sie sind gerade auf Entzug, denn ein ganzes Jahr lang haben sie ohne Mord leben müssen. Da geschieht es endlich wieder: Ein Antiquitätenhändler musste ins Gras beißen. Mit fast 80 Lebensjahren trotzdem kein würdiger Abschluss für Kuldesh Sharma. Aber ein guter Grund, um den Donnerstagsmordclub zum vierten Mal in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen. Und natürlich sind sie alle vier – Joyce, die Ex-Spionin, Elisabeth, die so gern Schriftstellerin wäre, der »Rote Ron« und Psychiater Ibrahim – wieder dabei. Denn ohne das Quartett aus der Seniorensiedlung Coopers Chase wäre die Südostküste des Vereinigten Königreichs ein kriminelles Sodom und Gomorrha. Von DIETMAR JACOBSEN

Kleinvieh macht manchmal auch großen Ärger

Roman | Liza Cody: Die Schnellimbissdetektivin

Nach einer Ex-Polizistin, einer Catcherin, der Witwe einer respektablen Rocklegende, einer Schriftstellerin, die das Leben einer ermordeten Sängerin recherchiert, einer Tochter indischer Einwanderer und einer obdachlosen Alkoholikerin überrascht Liza Cody in ihrem siebzehnten Roman die Leserinnen und Leser mit einer weiteren, aber ganz gut in die Reihe passenden Hauptfigur. Denn auch Hannah Abram war einmal bei der Polizei, hat sich allerdings mit einem Vorgesetzten angelegt – und das ziemlich handgreiflich. Deshalb arbeitet sie inzwischen im »Sandwich Shack« am Rande des Londoner Volksparks, hantiert gekonnt mit Toastscheiben, Würstchen und Speck und wird von Digby, ihrem cholerischen Chef, periodisch entlassen und kurz darauf wieder eingestellt. Weil ihr schmaler Verdienst weder hinten noch vorne ausreicht und ihr Ruf als Polizistin noch ein wenig nachhallt, verdient sie sich ein paar Pfund mit Detektivaufträgen dazu – nichts Großem, sondern nur Sachen, bei denen die Polizei  von vornherein abwinkt. Aber auch kleine Fälle haben gelegentlich so ihre Tücken. Von DIETMAR JACOBSEN

Billig und Boulevard

Film | Im TV: ›TATORT‹ Borowski und der Himmel über Kiel (NDR) , 25. Januar Eingeblendete Bildfetzen, Dunkelheit, viel Geräusch, ein Leichnam, eine Axt, zwei Beine von Täterin/Täter, das ist schon allerhand und war nur Vorspann, von der Leiche gibt’s bis auf weiteres nur Kopf. Rätselhafte Heimat Schleswig-Holstein. Von WOLF SENFF