Schwebende Kinder im Regen

Kinderbuch | Baek Hee Na: Wolkenbrot

Wie so oft ist auch die diesjährige Astrid-Lindgren-Gedächtnispreisträgerin in Deutschland wenig bekannt. Von der Koreanerin Baek Hee Na gibt es grade ein Buch auf Deutsch. Es erzählt mit ›Lichtbildern‹ eine banale Geschichte mit phantasievollen Bildern über zwei Kindern, die fliegen können. Von GEORG PATZER

WolkenbrotDüster ist, grau. Dunkler als dunkel ziehen die Wolken vorbei. Nieselregen platscht auf die Erde hinunter, die Scheiben sind besprenkelt, und sogar auf der Dachrinne hockt ein Wölkchen. Der Tag beginnt finster, und die Eltern schnurcheln noch vor sich hin.

Schnell, schnell die kleine Schwester geweckt und in die gelben Regencapes geschlüpft und dann nach draußen. Da stehen sie und gucken nach oben und lassen sich fröhlich nassregnen: »Lange, wirklich lange schauten wir in den Regenhimmel. Wir ahnten, dass heute etwas ganz Besonderes passieren würde.« Tatsächlich passiert etwas: Da hängt eine kleine Wolke hilflos an einem Ast am kahlen Baum fest, kann sich nicht lösen, kann nicht weiterfliegen. Schnell steigt die kleine Schwester auf die Schultern der großen und reckt sich weit nach oben, um der Wolke zu helfen. Ganz leicht ist sie, federleicht, wolkenleicht und wolkenwattig: »Vorsichtig sammelten wir sie auf und trugen sie zu Mama.« Die ist inzwischen auch aufgestanden und steht schon in der Küche. Nimmt die kleine Wolke, legt sie in eine große Schüssel, gießt warme Milch und Wasser hinein und gibt Hefe, Salz und Zucker dazu. Knetet und formt die Masse zu runden Brötchen: »In zwanzig Minuten können wir leckere Brötchen frühstücken«, sagt sie. In dem Moment bricht Hektik aus: Der Vater ist zu spät dran, schnappt sich Schirm und Tasche und rennt los, damit er noch pünktlich ins Büro kommt. Ohne Frühstück, der Arme.

Normalerweise sind wir Anfang April in Bologna auf der wunderbaren Internationalen Kinder- und Jugendbuchmesse, auf der auch immer der Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis verkündet wird. Oft sind es Autorinnen, die in Deutschland nicht so bekannt sind – noch spannender für uns, und manchmal können wir die Autoren dann auch gleich kennenlernen, wie vor ein paar Jahren Shaun Tan. Dieses Jahr fiel die Messe aus, und wir müssen auf die Koreanerin Baek Hee Na, die uns »unsere« Betreuerin Rachael Kim am koreanischen Gemeinschaftsstand sicher vorgestellt hätte, bis nächstes Jahr warten. Ein einziges Buch von ihr ist ins Deutsche übersetzt: ›Wolkenbrot‹, eine Neuauflage von 2005. Es erzählt von der zu Brötchen verarbeiteten Wolke, die alle leicht macht und wortwörtlich zum Schweben bringt. Zuerst die Kinder und die Mutter, sympathische Wesen zwischen Mensch und Katze, die von ihren Frühstücksstühlen Richtung Decke segeln. Was für ein leichtes Frühstück.

Und dann fällt der kleinen Schwester ein, dass ja ihr Vater bestimmt riesigen Hunger haben muss. Die Kinder beschließen, ihm das Essen hinterher zu tragen. Gesagt, getan: »Ich steckte ein Wolkenbrötchen in eine Tüte, machte das Fenster auf und schwebte mit meiner kleinen Schwester hoch in den Himmel.« Sie entdecken ihn im voll besetzten Bus, er steckt im Stau, aber das Wolkenbrötchen befreit ihn aus seinem Dilemma, und so schwebt er wolkenleicht ins Büro, wo er genau pünktlich ankommt.

Die Geschichte hinterlässt einen kleinen Nachgeschmack: Die Mutter backt, der Vater muss pünktlich im Büro sein, die Kinder helfen – das ist schon ein wenig arg traditionell und auch banal: Es hätte ja noch so viele andere Abenteuer und Entdeckungen für die schwebenden Kinder geben können, was hätten sie nicht alles im Flug erleben können, mit den Vögeln oder den Wolken, mit dem Wind oder der Erde unter ihnen oder einem Regenbogen. So bleibt die Geschichte leider ein bisschen altbacken.

Dafür entschädigen aber die einfallsreichen Illustrationen, ihre besondere Technik: Baek hat jede Szene mit Pappfiguren und Requisiten nachgestellt wie Stoffkleider oder Zudecken, und Kim Hyang Soo hat sie abfotografiert – zusammengesetzt und übereinandergelegt sind schöne, fast dreidimensional plastische Bildcollagen voller witziger Details entstanden wie schief hängende Bilder: Da sieht man die Katzenkinder im Pyjama, und die große Schwester strampelt schon die Decke von sich. Dann halten die beiden Kinderfiguren, immer noch im gelben Regencape, ihrer Mutter, die in der Tür zur Küche steht, die Schürze über ihr Kleid gezogen, die weiße Wolke hin. Hektisch stürzt der Katzenvater mit Schirm und Aktentasche durch das Bild: »Du meine Güte! Ich bin viel zu spät dran!« Mit wehender Krawatte rast er durch den Flur, und der Luftzug bringt sogar die Lampe hinter ihm zum Schwingen. Das schönste Bild ist die Küche von oben: Aus der Vogelperspektive sieht man die kleine Schwester über der Küchenzeile schweben, die große in ihrem Ringelkleid ganz dicht am Betrachter, zehn Brötchen schweben gen Decke, zwei davon, weil sie zu nah an der Kamera sind, sogar unscharf.

Es ist eine verzauberte Welt, die aus immer anderen Perspektiven gezeigt wird: von unten, von oben, mal ganz nah, mal von weiter weg. Und dass es so lange regnet, macht dann gar nichts mehr aus. Wenn man fliegen kann, hat man was anderes zu tun, als sich über das Nass Sorgen zu machen.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Baek Hee Na / Kim Hyang Soo: Wolkenbrot
(Gureum Bbang, 2004), übersetzt von Christina Youn-Arnoldi
München: mixtvision 2019
42 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 3 Jahren
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