/

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Wo stammt das Leben her, von irgendwoher muß es ja kommen, oder ist es bloß einfach da, sonst nichts, unvorstellbar.

Das beschäftigt dich, Tilman?

Wo sein Ursprung liegt und wie das Leben sortiert ist, gewiß, das beschäftigt mich, ob einem Tier mehr davon zuteil wird als einer Pflanze, dem mächtigen Baum mehr als dem stillen Gänseblümchen, auf welche Weise ich daran teilhabe, und blüht das Gänseblümchen auch für mich.

Wo eine Knospe sprießt und eine Blume blüht, äußert sich Leben, doch dürfte das kaum meßbar sein.

Teilt sich das Leben zu, dem Menschen zum Beispiel, und der eine erführe eine besondere Ausprägung, er wäre flink, gelenkig, er könnte ausdauernd laufen, sei es Marathon, sei es Triathlon, das wäre ihm in die Wiege gelegt, einem anderen wiederum nichts davon, doch werden wir ihn deshalb geringer schätzen?

Die Wissenschaftler erklären ja nicht, was Leben ist, Tilman, sie können das nicht, sie können nur zählen und messen. Sie legen zwar einige Parameter fest und weisen nach, daß Leben vorhanden sei, doch sind schon darüber zerstritten, zu bestimmen, wann ein Leben zu Ende geht, über andere Themen schweigen sie sich gänzlich aus.

Verbraucht es sich im Laufe eines Tages, weshalb verbraucht es sich, erschlafft es, weshalb erschlafft es, wird es von Müdigkeit überwältigt, ist die Müdigkeit ein Sendbote der Nacht, regeneriert es sich im Schlaf, und erwächst aus positivem Empfinden eine neue mentale Stabilität, wie aus einem nahrhaften Essen der Körper neue Kräfte schöpft?

Diese Abläufe nachzuweisen, dürfte uns vollends überfordern, Tilman, der Blutdruck ist meßbar, doch nicht das Leben, und wie lächerlich ist es denn, ein Leben nach Jahren zu zählen. Wir müssen die Dinge in einem neuen Licht betrachten, damit sie sich neu zusammensetzen, Tilman. Jedermann weiß, was Leben ist und was Schlaf, unseren hochgelehrten Wissenschaften jedoch bleibt das ein Buch mit sieben Siegeln, sie sind nicht in der Lage, alltägliche Abläufe zu erklären, aber sie schicken Raketen zum Mars und kennen keine Skrupel, vernichtende Waffen zu konstruieren, wie grauenhaft richten wir uns ein in dieser Welt, in der wir leben.

Sich vor Freude nicht einzukriegen, sich wie im siebten Himmel zu fühlen und umgekehrt, kreuzunglücklich zu sein, am Boden zerstört – sind das seine Aggregatszustände, und einer wie der andere wäre hochkonzentriertes, pralles Leben, und woraus nähren sich Gefühle?

Das habe ich gesagt, Tilman, oder? Keine Wissenschaft ist in der Lage, eine Konzentration von Leben, sofern es sie denn gibt, zu messen oder überhaupt nachzuweisen. Hörst du mir zu?

Sind wir eingeladen teilzunehmen, oder gestalten wir unser Leben aus eigener Kraft, und worin läge der Unterschied, verstehst du, das Leben hat seine unverrückbare Heimstatt auf diesem Planeten, es gestaltet die Abläufe und balanciert die Rhythmen, in die sich die Geschöpfe fügen.

Graue Theorie, Tilman, nichts davon ist bewiesen. Susanne lachte und war amüsiert.

Es steht dennoch außer Zweifel, niemand muß das beweisen. Ihr habt Augen, und sehet nicht, und habt Ohren, und höret nicht. Dieser Planet ist eine gefällig ausgestattete, komfortable Herberge, doch der Mensch verschließt davor die Augen.

Du magst recht haben, und deine Fragen sind klug gestellt, Tilman, sie zeigen auf, wie weit sich der Mensch vom Leben entfernt hat. Er begreift es nicht.

Er könne das nicht, nein, stattdessen plustere er sich auf mit seinen diversen Ambitionen, seinen allerlei Eitelkeiten und wisse sich nicht in das Leben zu fügen, die Seuche sei im Begriff, ihn eines Besseren zu belehren.

Man könne nur hoffen, daß es ihn nach der Seuche noch gibt, die Situation sei desaströs. Susanne blickte auf, griff zu ihrer Tasse und trank einen Schluck Tee. Kanne wie Tasse waren liebevoll mit einem rostroten Drachen geschmückt. Ob vielleicht ein Stövchen mit diesem Motiv erhältlich wäre, lindgrün?

Sie war vernarrt in diesen Drachen, der von Gestalt zierlich und anmutig war gleich jenem von Hergé im Blauen Lotus in Shanghai. Einer Schlange, die das Alter von zweihundert Jahren erreicht habe, wußte Susanne, wüchsen Füße und sogar Flügel, so sei überliefert, fledermausartige Flügel, und auf diese Weise entstünde der Drache – geheimnisvolle Geschöpfe lebten unter den Himmeln.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein zürnender Magier und Hohepriester der Sprache

Nächster Artikel

Ein letztes Mal

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Ankommen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ankommen

Nein, sie seien gar nicht angekommen auf diesem Planeten, nie, verstehst du, Farb, dem äußeren Anschein nach angekommen, sicher, jedoch nicht mit der  Absicht, Wurzeln zu schlagen, nicht mit dem Ziel, sich heimisch niederzulassen.

Aber sie hätten viel davon geredet, eine Heimat gefunden zu haben, überlegte Wette, und ob sie sich da etwas vorgemacht hätten.

Ankommen, Tilman, was bedeute das: ankommen, du kannst nicht unvollständig ankommen, etwa ein Bein oder einen halben Fuß draußen lassen, nein, unmöglich, wohin solle das führen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Nein, sagte sie, der Mensch habe nicht seßhaft werden wollen auf diesem Planeten, nicht ernsthaft, null, er verhalte sich, als wäre er auf Durchreise, ein Zwischenstopp werde eingelegt, der Planet eine Durchgangsstation.

Wenn die Mitte im Osten liegt

Kurzprosa | Peter Schneider: An der Schönheit kann’s nicht liegen Ein neuer Essayband über Berlin von Peter Schneider ist erschienen. Gelesen von Peter Mohr

Landschaft II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Landschaft II

Er sei neugierig geworden, sagte Farb, und habe selbst etwas über chinesische Landschaftsmalerei gelesen.

Annika lächelte. Lesen macht schlau, sagte sie und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Tilman blickte auf.

Sie habe sich unter der Tang-Zeit im siebten bis neunten Jahrhundert herausgebildet, sie habe ihre Blüte unter den Song und Yuan (10. Jh. bis 15. Jh.) erlebt, ihr Schwerpunkt habe sich seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf das Genre der Blumen und Vögel verlagert, und im neunzehnten Jahrhundert sei die große Landschaftsmalerei nach und nach erloschen.

Eine außergewöhnlich lange Zeit, sagte Annika.

Ihr Ende, so werde erklärt, sagte Farb, bilde den Verlust der Einheit von Natur und Kultur ab und, wenn man so wolle, ein Verschwinden der Welt überhaupt, es herrschen ungewöhnliche Zeiten.

Große Worte. sagte Annika.

Blindlings

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blindlings

Wir leben über unsere Verhältnisse, sagte Tilman und griff zu einem Marmorkeks, er hatte Marmorkekse eingekauft anstelle der Vanillekipferl, die im Geschmack nachgelassen hatten, seitdem die Preise für Vanille so massiv angezogen hatten, wir erwähnten das kürzlich und werden uns damit jetzt nicht weiter aufhalten.

Farb nickte, tat sich eine Pflaumenschnitte auf, nahm einen Löffel Schlagsahne dazu und strich sie langsam und sorgfältig glatt.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin. Ob sie eine vierte Person einladen sollten, überlegte sie, zu viert könnten sie Doppelkopf spielen, aber wen, vielleicht den Wette, oder Ramses ließe sich wieder einmal sehen, ja, Ramses II., er halte sich gelegentlich hier auf, aber spiele er Doppelkopf, nein, sagte sie, die Pearl S. Buck habe sie beiseite gelegt, wie peinlich, sie habe einen zweiten Roman von ihr gelesen und könne sie niemandem empfehlen.

Die Dinge fügten sich nicht mehr zusammen, sagte Tilman.

Ob sie das je hätten, fragte sich Farb.

Sprechender Affe in der Schwefelquelle

Kurzprosa | Haruki Murakami: Erste Person Singular

Seit vielen Jahren wird der inzwischen 72-jährige japanische Erfolgsautor Haruki Murakami als heißer Nobelpreisaspirant gehandelt. Im letzten Herbst war sein opulentes Erzählepos Die Chroniken des Aufziehvogels in einer neuen Übersetzung erschienen. Hierzulande erfreut er sich seit dem Sommer 2000 enorm großer Popularität. Damals war es im »Literarischen Quartett« des ZDF über Murakamis Roman Gefährliche Geliebte zum öffentlichen Zerwürfnis zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler gekommen. Fortan waren die in deutscher Übersetzung erschienenen (und neu aufgelegten) Werke von Murakami echte Verkaufsschlager: Wilde Schafsjagd, Hard-Boiled Wonderland, Tanz mit dem Schafsmann und 1Q84. Von PETER MOHR