/

Tilman träumt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Tilman träumt

Wiederkehrende Träume sind die schlimmsten, sie klammern, sie lassen nicht los. Nein, Tilman wußte nichts davon, er hatte keine Ahnung, nie hatte er wiederkehrende Träume gehabt, nie, er kannte nicht daß er träumte, er genoß seinen tiefen Schlaf.

Sie suchten ihn nicht jede Nacht heim, nein, es gab keinen Rhythmus, sie waren nicht vorhersagbar, manchmal geschah wochenlang nichts, er konnte sich nicht darauf einrichten, er war nicht dagegen gewappnet, so ein Traum war unberechenbar, er überraschte ihn komplett.

Wenigstens wachte er nicht schweißgebadet auf, er strampelte nicht im Schlaf oder würde sich heftig bewegen. Das Träumen belastete ihn nicht körperlich. Auch so etwas kam ja vor, er erinnerte sich, daß Susanne einmal eine solche Phase hatte, traumlos zwar, aber ihre Beine zuckten heftig, sie trat um sich und wachte auf, als sie mit dem Fuß gegen die Wand stieß.

Bei ihm war das anders, er kannte mittlerweile die Angst davor, einzuschlafen, und fühlte sich leer, wenn er aufwachte. Was waren das auch für furchterregende Figuren. Jedesmal das Mädchen, das mit einem lächerlich großen Pappschild vor einem schweren Brokatvorhang entlang lief, in einer gelben Weste und einem albern kurzen Rock, einem Faltenrock, weiß mit roten und gelben Streifen, senkrecht und waagerecht, schrecklich aus der Zeit gefallen.

›Kambrium‹ stand auf dem Schild, mit dem ergänzenden Zusatz ›vor sechshundert Millionen Jahren‹, und auf dem Meeresgrund krochen eklige Trilobiten herum. Nein, der Mensch war noch nicht präsent gewesen im Kambrium. Längst nicht.

Auf der Bühne stand ein schmales Männchen, das mit einer schmerzhaft näselnden Stimme über ein Megaphon in den Traum sprach. Als das Kambrium einzog, habe sich die Erde erwärmt, sagte das Männlein, diese ›kambrische Explosion‹ liege knapp sechshundert Millionen Jahre zurück, das Männchen legte eine Pause ein. Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre sei angestiegen, das Leben blühte auf, es seien gänzlich neuartige Lebewesen wie zum Beispiel die die Meere bewohnenden Trilobiten entstanden.

Das Männchen setzte einen Beamer in Gang, die Bilder wurden bunt und lebhaft. Tilman sah diverse vielbeinige Gliederfüßler, einer Kellerassel nicht unähnlich, unappetitlich anzusehen und bis zu siebzig Zentimeter lang.

Das Kambrium, dozierte das Männlein, sei ebenso die Blütezeit der Quallen, und der Beamer warf Bilder von so bizarrer Schönheit an die Wand, daß es Tilman den Magen umdrehte, er hatte nichts mit dem Kambrium im Sinn, er suchte einen Weg hinaus, doch wie flüchtete man aus einem Traum.

Und jetzt, diese Bilder? Unmöglich, er kannte diese Tiere, der Traum brachte die Dinge durcheinander und richtete ein Chaos an, war es doch erst einige Monate her. daß Tilman solch ein Tier gesehen hatte – ein großes Schild von durchscheinendem Weiß, geschätzt zwei Meter im Durchmesser, und darunter ein riesiges Bündel von roséfarbenen Tentakeln bewegten das Geschöpf durch das Wasser – ein widerwärtiger, abstoßender Anblick, Tilman erinnerte sich an einen mehrtägigen Segeltörn im Ostchinesischen Meer, wo Milliarden Nomura-Quallen lebten und andere Lebensformen verdrängten.

Nun lief wieder das alberne Gör mit der Kambrium-Tafel über die Bühne. Die nächste Folge, hieß es im kleingedruckten Zusatz, zeige das Perm, ein Erdzeitalter, das dreihundert Millionen Jahre zurückliege. Tilman war irritiert, er fand sich nicht zurecht, das Erdaltertum war ihm gleichgültig, ging es denn gar nicht voran.

Quallen überlebten auch in Wasser, das kaum mehr als eine Spur Sauerstoff enthielt – eine Ansage von dem dürren Männlein mit dem Megaphon. Quallen, fügte er hinzu, fühlten sich in stark verschmutzten Küstengewässern und ihrer sauerstoffarmen Nährstoffbrühe wohl. Sie würden eine Erwärmung und Übersäuerung der Ozeane gut vertragen.

Das Männlein war dürr, unglaublich dürr, Tilman war entsetzt, Haut und Knochen, eine schauderhaft klapprige Figur, und während es redete, schrumpfte es in sich zusammen, mehr und mehr, dann kamen ihm ein Bein und ein Ohr abhanden, seine letzten Worte wurden aus dem Rollstuhl gesprochen.

Der Fortschritt des Menschen, hauchte das Männlein, werde im Kambrium enden, die Vergangenheit sei Zukunft; es winkte zum Abschied, und nun stolperte unversehens wieder das entbehrliche Gör mit seiner Tafel über die Bühne, das Kambrium liegt sechshundert Millionen Jahre zurück, weit weit hinter uns.

Tilman wollte das alles nicht wahrhaben, er wurde ärgerlich, Themen des Paläozoikums waren nicht seine Welt, noch im Traum sträubte er sich heftig gegen die absonderlichen Gedanken, wer führte ihn da hinters Licht.

Während Tilman vergeblich nach einer Löschtaste suchte, war unversehens das Gör verschwunden und hatte auch gleich die Bühne entfernt, und zwar ein- für allemal, Tilman wußte es.

Der Tag bricht an, der Himmel ist blau, Tilman sitzt auf einer Bank, es wird Mai sein, der Père Lachaise hat hinreißend schmale, kopfsteingepflasterte Wege, die von rotblühenden Kastanien gesäumt sind, Stille, ein Traum.

| WOLF SENFF

| Titelbild: Ryan Somma, Life in the Ediacaran sea, CC BY-SA 2.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kleines Land, aber oho!

Nächster Artikel

Geraubte Träume

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Irrtum

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Irrtum

Das Leben ist nicht, was es zu sein vorgibt.

Tilman rückte mit dem Sessel näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Wir leben im Irrtum.

Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen, das unter blauem Himmel im milden Schein der Nachmittagssonne sanft glänzte. Er stand auf und zog die Terrassentür auf, es war ein angenehmer Apriltag, aber noch zu frisch, um draußen zu sitzen.

Es ist an der Zeit, auf die Bremse zu treten.

Schwierig. Wo willst du anfangen, Tilman?

Corona

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Corona

Ihr merkt davon nichts, bei euch kommt die Seuche nicht an? Unmöglich. Du nimmst mich auf den Arm, Krähe. Tröpfcheninfektion, Lungenentzündung, und erzähl mir nicht, ihr hättet keine Lunge. Na also.

Eliten

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eliten

Aber selbstverständlich, sagte Gramner, sie seien nicht von gestern.

Nicht daß sie ahnungslos wären, die Eliten der Moderne, sagte Pirelli, sie seien informiert, einundzwanzigstes Jahrhundert, sagte er, kommuniziert werde digital ohne zeitlichen Verzug, Spitzentechnologie, Hochleistungsgesellschaft, besser geht’s nimmer, das sei ein anderes Thema als hier bei uns, wo gerade einmal die Bahnverbindung quer über den Kontinent gelegt werde, Union Pacific, und der Goldrausch die Berichterstattung in den Gazetten dominiere.

Die Eliten wüßten bestens Bescheid, spottete Crockeye, sie führen uns.

Absolut, sagte London und lachte, die Eliten gäben den Ton an.

Litanei

Textfeld | Konstantin Arnold: Litanei Es war gestern und es war spät. Ich weiß nur, dass es ungebrochene, unverheiratete Männer waren. Noch nie verwundet. Mit Kurzhaarschnitten und ehrlicher Arbeit. Dreck unter den Nägeln und den nötigen Kraftausdrücken. Sie hatten an langen bunten Strohhalmen gezogen und vor qualmenden Drinks gesessen. Da waren Nüsse und Aschenbecher so klar wie Kristalle, die das kalte Licht der Röhrenlampen mit etwas mehr Wärme zurück in den Raum schleuderten.

Harmonie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Harmonie

Die titanischen Kräfte, aufgeschreckt, sagte Termoth, würden ihre Ruhezonen verlassen, es sei notwendig geworden, das Universum der Lebendigen neu zu arrangieren, denn das Maschinenwesen habe sich ausgebreitet, habe sein verheerendes Gift technologischer Innovationen gestreut und drohe nun das harmonische Gleichgewicht endgültig zu destabilisieren.

Titanische Kräfte, fragte Harmat.

Eine lange Geschichte, sagte Gramner.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Touste schlug Akkorde auf seiner Gitarre an.

LaBelle summte eine Melodie.

Der Ausguck erhob sich, tat einige Schritte und löste sich in der Dunkelheit auf.

Was hatte er dauernd mit seinem Salto, er tue sich wichtig, überlegte Crockeye.

Wie von ferne drang sanft das Rauschen des Ozeans bis zur Ojo de Liebre.