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Transfer

Vor Jahren war es üblich gewesen, vom Ben Gurion via Jerusalem zu fahren, Lassberg war Mitte dreißig gewesen, sein erster Aufenthalt, damals führte die Strecke am Ölberg entlang, die Jericho Road am östlichen Hang des Kidrontals, im Rückspiegel die Mauern der Altstadt, das Goldene Tor, steinübersäte Gräberfelder.

Gesetzt, fragte Lassberg, das Tote Meer trockne aus?

Das sei eine Gefahr, versicherte der Fahrer. Jedoch habe es immer Perioden gegeben, da seien die Ufer zurückgewichen, und wiederum andere, da sei der Pegel gestiegen. Solle er sich aufregen, fragte er entrüstet, weil das Meer sich während des vergangenen Jahrzehnts zurückgezogen habe, einen Meter pro Jahr? Einen Meter? Dieses Meer habe Jahrtausende überdauert, es sei ein Juwel auf dem Planeten.

Oh das unwandelbare Salzmeer!, rief er unversehens aus und wuchtete die Faust zum offenen Fenster hinaus.

Lassberg lächelte. Leichtigkeit erblüht unter der Sonne.

Ein gigantischer Riß in der Haut, erklärte der Fahrer, das sei das Salzmeer. Eine verdammte gottverlassene Einöde, ergänzte er nüchtern, ein Ort der Leere, den der Mensch, der an der Welt erkrankt, aufsuche.

Und nach einigen Minuten Stille: Nichts könnte hier existieren, gäbe es nicht dort oben das fruchtbare Land, das lebenspendende Wasser, den Wechsel der Jahreszeiten. Weder ein Hotel noch Reisende noch Fahrten im Taxi.

Sein kräftiges, gelocktes schwarzes Haar lag ihm über die Ohren bis in den Nacken. Während er geholfen hatte, den Koffer einzuladen, hatte er das rechte Bein leicht nachgezogen. Das Land hat eine bewegte Geschichte.

Er lachte wieder. In allen Kriegen habe er gekämpft, sagte er stolz, das Land habe verteidigt werden müssen. Er deutete auf die rechte Schulter und auf den Oberschenkel: Zwei Kugeln, sagte er. Glückliche Treffer, nicht tödlich, ergänzte er lakonisch.

Diesseits glänzten die steilen Hänge der Westbank unter der Nachmittagssonne. Schluchten und Felsnasen warfen Schatten, die mit den Farben spielten. Leicht wird die Welt mit Fernsehbildern verwechselt, nicht wahr, mit Postkartenmotiven. Schilder warnten davor, im Meer zu baden, am jenseitigen Ufer ruhten hinter Schleiern von Dunst die Hänge Jordaniens.

Er fahre diesen Transfer selten, erklärte der Fahrer. Die Landschaft der großen Negev sei spröde und abweisend. Das Salzmeer ziehe sich endlos von Norden nach Süden – still, rätselhaft, lebensfeindlich inmitten der Einöde. Wer, frage er sich, suche diese Region freiwillig auf? Das Salzmeer sei unzugänglich, ein fremder Gast auf dem Planeten.

Zurückgezogen sei es, eine Zuflucht, tief verborgen, entgegnete Lassberg. Auch an den Ufern Moabs, den östlichen, jordanischen Ufern, seien Hotels nach westlichen Standards eingerichtet. Vier Sterne, fünf Sterne. Kuren, Gesundheitstourismus, Wellness-Kultur habe es zu allen Zeiten gegeben, allein die Namen hätten sich geändert wie alles seinen Namen ändere, er lachte verächtlich.

Der Fahrer stimmte ein. Würden die Namen nicht laufend erneuert, gäbe es keinen Fortschritt, spottete er.

In Kallirhoe habe schon Herodes im Salzmeer gebadet, fügte er hinzu und wechselte das Thema: Bis vor wenigen Jahren sei er drei Monate jährlich eingezogen worden, doch mit dem dreiundfünfzigsten Lebensjahr sei er freigestellt. Während der Wehrübungen sei er jedesmal den alten Kameraden begegnet, ja der Krieg sei schrecklich und breche immer wieder aus, in nur wenigen Teilen der Welt herrsche Frieden. Er habe seine besten Freunde sterben sehen, die Familien hätten einander oft besucht, gemeinsames Leid schweiße zusammen. Heute begegneten sie sich ein- oder zweimal im Jahr, er sehne sich nach den alten Zeiten.

Er fuhr zügig, südländisch – waghalsig, mißt man ihn an den behäbigen zentraleuropäischen Standards. Als die Hotels in Sichtweite kamen, wies er auf einen Spalt in der Felswand.

Der Minister habe vorgehabt, das Salzmeer zu retten, sagte er, deswegen habe hier eine Kanalverbindung vom Mittelmeer austreten sollen, oh die weitreichenden Pläne!

Sie fänden kein Ende, nicht wahr?

Der Fahrer lachte. Die vermeintlich günstigste Führung sei markiert worden. Bereits die Römer hätten vorgehabt, einen Kanal zu bauen. Die Köpfe der Menschen steckten voller ambitionierter Pläne, und wir müßten uns glücklich schätzen, wenn sie sich zerschlügen, die Pläne.

Nun werde eine Leitung von Eilat herangeführt?

So habe die Knesset entschieden, sagte er milde lächelnd, ein solches Projekt werde nicht in einigen Jahren beendet.

Eine Pipeline?

Der See Genezareth trockne aus, erklärte er, der Jordan sei ein Rinnsal. Viele Regionen seien nicht ausreichend mit Trinkwasser versorgt. Die Regierung zögere, am Mittelmeer Anlagen zu errichten, die das Wasser entsalzen, und bediene sich aus den Brunnen Judäas und Samarias.

Die Westbank sei besetztes Gebiet, wandte Lassberg ein, doch wer die Pumpen der Westbank kontrolliere, ergänzte er nach einer Pause, entscheide, wie viel Wasser nach Israel fließe und wie viel den Palästinensern verbleibe.

Die Mehorot Wassergesellschaft Israels betreibe die Liefersysteme und verwalte die Ressourcen.

Auch auf dem Golan?, fragte Lassberg.

Auch auf dem Golan.

In den USA seien Pipelines geplant, sagte Lassberg, die Wasser aus den kanadischen Seen in die Wüstensiedlungen Nevadas und Arizonas leiten.

Las Vegas!

Eine Spielhölle werfe eine Menge ab, sagte Lassberg, und wer das Geld habe, der spiele zur Musik auf.

Viele Regionen seien unzureichend mit Wasser versorgt.

Die Welt sei aus den Fugen, sagte Lassberg.

Mao Zedong, erklärte der Fahrer, habe von seinen Ingenieuren einst einen Wasserweg nach Norden verlangt, der hohe Gebirge überqueren sollte.

Hirngespinste, sagte Lassberg. Daß das Tote Meer austrockne, werde letztlich der Eigennutz der Hoteliers verhindern. Internationale Hotelketten hätten sich seit Jahren gewinnträchtig an den Ufern etabliert: das Hyatt, das Holiday Inn, das Caesar Palace.

Der Mensch könne gar nicht umhin, sagte der Fahrer, daß er mit diesem Ort zu Geld komme.

Plazierten sie nicht jedes Jahr ein jungfräuliches Hotel in die Wüste?

Sie rechneten auf Gäste aus aller Herren Länder, sagte der Fahrer.

Wenige Jahre später wurde die mehrspurige Umgehung gebaut, sie dokumentiert den Besitzanspruch auf die Stadt, unteilbar, die Regierung toleriert keine politische Präsenz der Palästinenser, ein Vorort als Sitz für deren Verwaltung wäre undenkbar, sie geht keine Kompromisse ein, nicht eine einzige Position wird geräumt, seit alters her regieren Philister und Schriftgelehrte diese Stadt, die Wogen schlagen hoch.

Die Umgehung zieht sich in einem weiten Bogen von Norden her um die Außenbezirke und geht in die Landstraße über, die zwischen Felshang und Meer verläuft, daran würde sich nichts ändern.

Wenige Jahre später führte der Transfer eine südliche Route entlang über Arad, Lassberg saß mit anderen Fahrgästen in einem Kleinbus. Der Fahrer bremste an einem Kontrollpunkt ab, nickte und winkte den Posten zu.

Sie fuhren durch karges Land, die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, und als sie die Außenbezirke Arads passierten, war die Dämmerung angebrochen, die Hitze hatte nachgelassen.

Trotz der Temperaturen fröstelte Lassberg. Ein Organismus reagiert empfindlich, wenn er sich auf ein verändertes Klima einstellt. Sie waren zu siebt, er saß am geöffneten Fenster und hoffte sich nicht zu erkälten.

Geologisch beschrieben fuhren sie in einen Graben, der sich über drei Kontinente hinzog, die Jordansenke war ein kurzer Abschnitt des tausende Kilometer langen syrisch-afrikanischen Grabens, einer gigantischen Narbe im Planeten, die sich über das Rote Meer und die Afar-Senke bis zum Viktoria-See hinzog, zum Ostafrikanischen Graben wurde, der, wie die Jordansenke das Tote Meer, eine Reihe abflußloser Salzseen barg, aber auch jene idyllischen Seen, die als die Wiege der Menschheit gelten.

In der Afar-Senke war vor wenigen Jahren nach einem Beben und einem Ausbruch des Erte Ale der Erdboden um einhundert Meter abgestürzt, ein sechzig Kilometer langer Grabenbruch hatte sich um acht Meter erweitert, Magma stieg auf, kühlte ab und bildete basaltischen, ozeanischen Boden. In diesem Teil Afrikas war nichts mehr wie zuvor – das Rote Meer würde über kurz oder lang die Region überfluten und einen Meeresarm bilden, den afrikanischen Kontinent teilend.

Auf dem Planeten gab es keinen Ort, der tiefer unter dem Meeresspiegel läge als das Tote Meer. Drei Wochen. Lassberg fühlte sich gut, der Aufenthalt in En Bokek war ihm vertraut. Erst letzten September war er wieder hier gewesen und wußte, was ihn erwartete.

Der Fahrer jagte den Kleinbus durch die Haarnadelkurven hangab, sein Tempo war infernalisch. Lassberg schien sich der Magen umzudrehen, wie weit noch ginge es hinunter, seine Handteller schwitzten.

Sie trafen eine halbe Stunde vor Mitternacht ein. Die Hotels reihten sich am Salzmeer, was für ein Anblick, ihre Foyers waren erleuchtet, die Neuankömmlinge wurden freundlich begrüßt. Der Fahrer hielt vor dem Nirwana, dem Caesar, dem Paradise.

Lassberg hatte wieder im Tsell Harim gebucht. Auf dem Nachttisch wartete ein Teller mit Brot und Käse, mit Datteln, Süßigkeiten.

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