Liebesgeschichte und Tragödie auf Deshima. Im 17. Jahrhundert waren die Holländer die einzigen westlichen Ausländer, mit denen die Japaner Handel trieben. Sie mussten auf einer kleinen Halbinsel vor Nagasaki wohnen, streng kontrolliert. Aber manchmal kam es doch zu kuklturverwirrenden Begegnungen. Christine Wunnicke, eine grandiose Erzählerin von Geschichten aus dem Fernen Osten, erzählt von einer Rache, die sich viel Zeit gelassen hat. Von GEORG PATZER
Mehr als vierzig Jahre hat Seki Keijiro auf seine Rache gewartet, jetzt ist seine Gelegenheit gekommen. Früher war er ein gefürchteter Kämpfer, jetzt ist er vor allem faul geworden. Dann aber, Ende des Winters, lässt er eine Zielscheibe in seinen Hof stellen und schießt mit dem Kurzbogen darauf: »Er sah dem Schnee gern zu, aber er stand nicht gern darin. Manche sagten, er stehe ohnehin nicht gern. Manche behaupteten, er habe seit der Belagerung von Osaka den Hintern nicht mehr gehoben, aus reiner Faulheit und weil er, dank seiner günstigen Verbindung mit der Tochter eines Brudersohns des ehrenfesten Itakura Shigemune, nicht musste.«
Aber jetzt schießt er mit dem Bogen und holt sogar »sein anderes Schwert« aus der Kiste. Und bewirbt sich als Inspektor für die Insel Deshima, dem einzigen Platz, an dem sich die Holländer der Ostindien-Kompanie im 17. Jahrhundert aufhalten dürfen: nur Holländer, kein anderer europäischer Ausländer.
Auf Deshima trifft Seki Keijiro auf den unruhigen Abel van Rheenen, ein junger Mann, der nur eine Fähigkeit hat: Er saugt die Sprachen nur so in sich auf. Und so ist der Sohn eines Gesellschafters der Kompanie Dolmetscher geworden, »Japonica-Sprache-Person«, wie er sich holpernd vorstellt. Sofort aber ist er auch fasziniert von Seki, von seiner Kleidung, seinem Benehmen, vor allem aber von seiner Haltung: »Er sitzt in seinem Beckenknochen wie in einem Lehnstuhl. Wie macht er das? Das möchte ich auch können.« Sie kommen sich näher, denn auch Seki ist fasziniert von diesem seltsamen 19-Jährigen, außerdem braucht er Informationen über ein holländisches Schiff mit dem Namen Rifuto.
Lange dauert es, bis Abel herausbekommt, dass es die »Liefde« ist, und noch länger, bis Seki ihm erzählt, dass sein Geliebter, der Samurai Kurihara Yuudai, einst von einer Kanone dieses Schiffs in Stücke gerissen wurde – dafür will er jetzt Rache nehmen. Längst haben sich die beiden da schon enger aufeinander eingelassen, Abel lernt »sechs japonesische Wörter für die Liebe und acht für die Unzucht, und erstere passten alle nicht, und letztere passten alle«. Auch »Liefde« heißt „Liebe“, dummerweise ist Abel der Nachkomme der Familie, die die Kanonen hergestellt hat und das Schiff besaß. Und so endet die Liebesgeschichte in einer Tragödie.
Christine Wunnicke hat eine wunderbare Novelle geschrieben, in der alles etwas in der Luft hängt. Was ist Liebe? Was ist es im japanisch-europäischen Sprach- und Kulturtransfer? Aber die Liebesgeschichte hat auch Elemente einer Samurai- und einer Geistergeschichte, denn auch der tote Yuudai tritt auf. Es ist eine Erziehungsgeschichte, bei der Abel eine geerdete Körperhaltung und sehr brachial Meditation lernt, eine Rachegeschichte, eine Geschichte einer lebenslangen Obsession und der Loyalität über den Tod hinaus.
Elegant, atmosphärisch dicht und mit viel Witz beschreibt Wunnicke die historische japanisch-europäische Kulturbegegnung, im schnellen Wechsel von komischen und drastischen Szenen häufig nur angedeutet, und die Japaner werden lebendig in ihren Persönlichkeiten, die mit wenigen Strichen präzise gezeichnet sind. Keijiros Unberechenbarkeit wird ebenso geschildert wie die Stringenz seiner Handlungen, aber Wunnicke hütet sich vor billigem Exotismus ebenso wie vor einer Vereinnahmung aus europäischer Sicht. Es gibt keine Erklärungen in dieser schmalen Novelle, sondern nur die Erzählung. So dass man am Ende genauso verblüfft ist wie Abel, der fragt: »Ist solche Rache eine Sitte deines Landes, oder bist du allein verrückt?« Und Keijiro antwortet: »Beides«.
Titelangaben
Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642
Berlin: Berenberg 2020
110 Seiten. 14.- Euro
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