Auf einem Baum sitzen

Roman | Haruki Murakami: Die Chroniken des Aufziehvogels

Er wurde im Vorfeld der Nobelpreisverleihung von den internationalen Experten wieder als ganz heißer Aspirant auf die Krone der Literaturwelt gehandelt. Aber  erneut ist der 71-jährige japanische Schriftsteller Haruki Murakami leer ausgegangen. Im deutschen Sprachraum erfreut er sich schon seit dem Sommer 2000 enorm großer Popularität. Damals war es im »Literarischen Quartett« des ZDF über Murakamis Roman Gefährliche Geliebte zum öffentlichen Zerwürfnis zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler gekommen. Fortan waren die in deutscher Übersetzung erschienenen (und neu aufgelegten) Werke von Murakami echte Verkaufsschlager: Wilde Schafsjagd, Hard-Boiled Wonderland, Tanz mit dem Schafsmann und 1Q84. Von PETER MOHR

Roman | Haruki Murakami: Die Chroniken des AufziehvogelsNun ist ein »alter« Murakami in völlig neuem Gewand erschienen. Die Chroniken des Aufziehvogels waren 1998 schon einmal in deutscher Ausgabe erschienen, allerdings aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und erheblich gekürzt gegenüber dem japanischen Original. Nun hat sich die versierte Murakami-Übersetzerin Ursula Gräfe noch einmal des umfangreichen Originals angenommen. Herausgekommen ist eine rund 300 Seiten längere und deutlich facettenreichere Variante des Aufziehvogels – noch opulenter, noch ausschweifender, noch verspielter und verrückter.

Kein Wunder, dass das erzählerische Konditionswunder Murakami auch begeisterter Marathonläufer (»Ich will noch bis 85 laufen«) ist und ein ausgeprägtes Faible für extreme Herausforderungen pflegt. Wir begleiten auf mehr als tausend Seiten den paradigmatischen Anti-Held Toru Okada, den »Aufziehvogel«, der sich mit Anfang dreißig in eine handfeste Lebenskrise hinein laviert hat. Nach seinem ersten Staatsexamen und einem Engagement in einer Anwaltskanzlei schmeißt er den Job und zieht sich zurück in einen nur leidlich erfolgreichen Selbstfindungsprozess: »So ein Aufziehvogel sitzt auf einem Baum und zieht jeden Morgen die Welt auf, knarr und kreisch.«

Okadas Ehefrau Kumiko verschwindet plötzlich. Ihr Kater war schon zuvor abhanden gekommen, und eine skurril gezeichnete Esoterikerin gab vor, jenen Kater gesehen zu haben. Das ist alles herrlich schräg und leicht kafkaesk inszeniert.

Murakami lässt seinen Text mit zauberhafter Leichtigkeit zwischen Tiefsinn und Humor changieren. Völlig unterschiedliche Handlungsstränge sind nur lose miteinander verknüpft, Briefe und Zeitungsartikel sind in die Handlung integriert, und es tauchen (wie in einer Endlosgeschichte) immer wieder neue Figuren im Dunstkreis des Protagonisten auf und erweitern den Handlungskosmos.

Da gibt es Torus Schwager Noboru Wataya, einen ehrgeizigen, zielstrebigen und machtorientierten Politiker aus dem Lager der konservativen Intellektuellen, den pensionierten Lehrer und ehemaligen Leutnant Tokutaro Mamiya, der von seinen entsetzlichen Erlebnissen aus dem japanisch-chinesischen Krieg in der Mandschurei und seiner Begegnung mit dem russischen Geheimdienstoffizier Boris Gromow in einem sibirischen Straflager berichtet und die blutjunge, leicht kokette May Kasahara, die der Hauptfigur den Namen »Mister Aufziehvogel« verliehen hat.

Mit ihr sitzt der literaturbeflissene Protagonist bei eisgekühltem Dosenbier zusammen, als das Mädchen fragt: »Was haben sie jetzt vor, Herr Aufziehvogel? Ich habe mich noch nicht ganz entschieden, sagte ich. Vielleicht verschwinde ich und verlasse Japan.«

Und auf die Frage, wohin er wolle, antwortet der grüblerische Dostojewski-Liebhaber: »Vielleicht Kreta.« Und schon ist die Volte geschlagen zum nächsten Erzählstrang: zu Malta und Kreta Kano, zwei Schwestern mit übersinnlichen Kräften. Jena Kreta war dem Ich-Erzähler im Traum erschienen und hatte ihm aus einem wasserlosen Brunnen geholfen.

Eine nicht dingfest zu machende pulsierende Unruhe zieht sich wie ein roter Faden durch das opulente Epos. Sogar bei Torus tiefgehenden Selbstreflexionen kommt keine wirkliche Ruhe auf. Von überall her gibt es emotionale Störfeuer – mal realer, mal imaginierter Natur.

Das literarische »Update« des Aufziehvogels ist ein gigantisches Feuerwerk der Verstörungen. Irritierend, bizarr, mit lockerer Hand verfasst und mit unendlich vielen überraschenden Wendungen. Als Leser ist man nach der kräftezehrenden, aber lohnenden Marathonlektüre beinahe froh über den »Entschleunigung« verheißenden Schlusssatz: »Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Doch es dauerte lange, bis ich fern von allem und allen in einen kurzen friedlichen Schlummer fiel.«

Nicht ganz so ausdauernde Murakami-Fans dürfen sich schon jetzt auf den im Januar erscheinenden (nur rund 250 Seiten langen) Roman Erste Person Singular freuen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Haruki Murakami: Die Chroniken des Aufziehvogels
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Köln: Dumont 2020
1005 Seiten. 34.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Mehr von PETER MOHR zu Haruki Murakami in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein alter Lehrer und die Protokolle der 10b

Nächster Artikel

Kleiner Vogel, großer Krieg

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Der Fall der verschwundenen Schriftsteller

Roman | Håkan Nesser: Schach unter dem Vulkan

Weil der bekannte schwedische Schriftsteller Franz J. Lunde im Anschluss an eine Lesung spurlos verschwindet, muss Gunnar Barbarotti, der in Kymlinge für die Ermittlungsarbeit zuständig ist, ran. Es ist der siebte Fall für den Nachfolger des genial-vergrübelten Kommissars Van Veeteren im Werk des 71 Jahre alten Håkan Nesser und ein ganz und gar ungewöhnlicher dazu. Denn Lunde hat ein Erzählfragment hinterlassen, in dem angedeutet wird, dass er zuletzt von einer immer wieder auftauchenden Leserin gestalkt und bedroht wurde. Viel Arbeit für Barbarotti, zumal Lunde nicht der einzige verschwundene Literat bleibt und auch im fiktiven Kymlinge die Corona-Pandemie das Leben und Arbeiten zunehmend erschwert. Von DIETMAR JACOBSEN

Retter, Götter, Romantiker

Roman | Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück

Sie heißen Amy und Aiko, Tessa und Tara, Robert und Basil. Dieses entsetzliche Glück ist das unerreichbare Ziel, dem sie unentwegt entgegenhecheln, egal ob sie Bücher schreiben, Häuser verkaufen oder Anthropologie studieren. Annette Mingels hat mit ihrem neuen Buch einen hellsichtigen Episodenroman verfasst, der sich tief in die Befindlichkeiten unserer Gesellschaft gräbt. Für die Lektüre sollte man sich Zeit zu lassen. Von INGEBORG JAISER

Der ewig suchende Erinnerungskünstler

Roman | Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst Ein neuer Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano ist erschienen – ›Damit du dich im Viertel nicht verirrst‹. Eine Rezension von PETER MOHR

Von Schmerz zu Schmerz

Roman | Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki – der neue Roman von Haruki Murakami, der pünktlich zum 65. Geburtstag des Schriftstellers am 12. Januar erschienen ist. Von PETER MOHR

Zeit der Reue

Roman | Arnaldur Indriðason: Tiefe Schluchten

Zum dritten Mal macht sich Arnaldur Indriðasons pensionierter Polizist Konráð auf die Suche nach einem verschwundenen Menschen. Wie in den beiden Vorgängerromanen der Reihe - Verborgen im Gletscher (2017, deutsch 2019) und Das Mädchen an der Brücke (2018, deutsch 2020) – wird er auch diesmal von seiner Ex-Kollegin Marta unterstützt. Die ist meist wenig begeistert, wenn sich Konráð in ihre Arbeit einmischt. Doch weil sie diesmal am Schauplatz eines Mordes einen Zettel mit seiner Telefonnummer findet, versucht sie natürlich herauszufinden, was dahintersteckt, ohne zu ahnen, in welche Tragödie ihr Anruf sie und ihren ehemaligen Kollegen verwickelt. Von DIETMAR JACOBSEN