/

Abenteuer Zirkus

Kulturbuch | Zirkuswelten

Nun mal ganz ehrlich: wer hat einen Zirkus als Kind nicht geliebt, ließ sich gefangen nehmen von dessen Atmosphäre, der Manege, den Tieren, Clowns und Kunststücken? Wie gerne wären wir als Kinder mitgereist, ausgebrochen, hätten uns in ein Abenteuer stürzen wollen. Sah man aber früher die großen leuchtenden Buchstaben der Zirkus- Unternehmen oft und regelmäßig, so sind sie heute rar geworden, die Lichter nicht mehr so grell, die Magie von früher ist heute eine andere. BARBARA WEGMANN lässt sich inspirieren.

Zirkuswelten»Der Zirkus ist mein Lebenssinn, er ist meine Arbeit und macht mich glücklich. Der Zirkus ist Therapie und Zerstreuung zugleich.« Nell Gifford, mit nur 46 Jahren 2019 verstorben, war Mitbegründerin des Giffords Circus. Auf Karriere, Geld und Wohlstand verzichtete sie, brach ihr Studium der Literaturwissenschaft ab und »wählte ein Leben in Freiheit«. Es war »die Erfüllung eines Lebenstraums«. Giffords Circus, das ist ein Paradebeispiel für den Cirque Nouveau, der seit den 70er Jahren die althergebrachten Tierdressurnummern aus dem Programm nimmt und sie austauscht gegen Akrobatik, Musik und Theater. Der Zirkus erfand sich neu, damals begann eine neue Ära.

Zirkus, das ist heute etwas Anderes, als das, was wir aus der Kindheit noch kennen. Der Cirque Nouveau »verkörpert auch weiterhin den Geist des fahrenden Volkes; er interpretiert sie neu, die gelebte Tradition des Geschichtenerzählens, haucht ihr wieder Leben ein und bringt sie zum Leuchten, die Facetten einer altbekannten Kultur.« Geblieben sind diese ganz besondere Magie, die Scheinwerfer, das applaudierende Publikum, das Abenteuer, Menschen zu erleben, die etwas so ganz Anderes ausstrahlen, als die tägliche Norm. Das fahrende Volk. Die Künstler und Akrobaten. Geblieben ist auch die Aufregung vor jedem Auftritt.

Es sind Zirkusfamilien aus ganz Europa, die die beiden Autoren besuchen und in sehr sensiblen Texten und stimmungsvollen Bildern vorstellen. Es sind fotografische Einblicke meist hinter die Kulissen, dann, wenn der Vorhang gefallen ist, die Vorstellung vorbei ist. Das Buch zeigt private Gesichter, ungeschminktes Leben, beengte Wohnverhältnisse und provisorische Lagerplätze. »Ein Wohnwagen verwandelt sich in ein Wunderland aus glitzernden Farben, so bunt wie das Bonbonpapier im Süßwarenladen.« Na, ob das Leben der Kinder immer so »bunt wie das Bonbonpapier« ist? »Wir reisen von einem Ort zum anderen, ohne fließendes Wasser, ohne Strom. Nur mit einer Petroleumlampe. Wir benutzen keinerlei Verstärker, bei uns ist alles live.« Da gehört schon etwas zu! Leidenschaft, der Glaube an die nie endende Magie der Zirkuswelt allemal. Der Verzicht, Vieles nicht zu haben um den Preis der Freiheit, des Wanderns von Ort zu Ort.

Die schönen Bilder voller besonderer Momente und die Texte erzählen von Leidenschaft und Empathie, lassen Entbehrungen und den rauen Zirkusalltag nicht unerwähnt. Und immer wieder ist da dieses Lebensgefühl, dieser Hunger nach Freiheit, trotz allem eben. So wie bei dem Circo Raluy Legacy. »Luis Raluy hatte einen Traum, ihn in ein Konzept gebändigt und einen Zirkus gegründet, der seinen Traum lebt.

In diesem Sinne rollt der Circo Raluy Legacy seit mehr als siebzig Jahren mit seinen bunt bemalten Wagen langsam, aber unermüdlich weiter und weiter.« Es sind Menschen, die beseelt sind von ihrem Leben, von ihrem Beruf und der Sucht nach Applaus und der Freude, die sie einem Publikum machen. Das liegt zwischen den Zeilen.
Es wird Zeit, einmal wieder in den Zirkus zu gehen, uns sei es auf 192 verzaubernden Seiten.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Zirkuswelten
Das magische Leben der letzten Zirkusfamilien Europas
Fotos: Stephanie Gengotti
Texte: Fulvio de Sanctis
München: Frederking & Thaler 2020
192 Seiten, 39,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Mission eines Öko-Gurus

Nächster Artikel

DIE HANDYS HOCH!

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Im Rausch(en) der Geschwindigkeit

Ausstellung | Kulturbuch | Christoph Naumann: ›Rauschen‹ in Würzburg (BBK Galerie) Fußgänger und Autobahn. Zwei Formen der Bewegung prallen in der Arbeit des Würzburger Fotografen Christoph Naumann aufeinander. Großformatige Landschaftsbilder zeigen Räume und Orte, denen normalerweise keine Beachtung geschenkt wird. Weil wir sie im Temporausch übersehen – oder zu Fuß nie besuchen würden.

Champagner in der Chefetage

Kulturbuch | David Graeber: Schulden Zurzeit scheint David Graeber everybody’s Knuddel-Radikalinski zu sein. Der gelernte und lehrende Anthropologe mit dem kecken Jungsgesicht düst von Occupy!-Camp zu Occupy!-Camp, bedient zwischendurch allerlei Medien mit frisch-fröhlichen Interviews, heimst Jubelrezensionen in unseren meinungsmachenden Blättern und sogar verbale Streicheleinheiten von manchem Banker ein. Dabei ist das, was er der Welt zu sagen hat, keine leichte Kost, sondern ein wissenschaftlich fundierter Generalangriff auf den Kapitalismus. Wie man seinem 400-Seiten-Werk Schulden. Die ersten 5000 Jahre entnehmen kann. Von PIEKE BIERMANN

Deutschland, Europa und die Welt

Gesellschaft | Ulrich Beck: Das deutsche Europa

Ein offenkundiger Widerspruch treibt mehrere Autoren zurzeit um: der Widerspruch zwischen dem von maßgeblichen Politikern gewollten Europa und der zunehmenden Skepsis in großen Teilen der Bevölkerung. Ulrich Beck liefert mit seinem Essay Das deutsche Europa, erschienen in der edition suhrkamp digital, die sozialdemokratische Antwort, meint THOMAS ROTHSCHILD

Villa Kunterbunt

Kulturbuch | Philip Jodidio: 100 Contemporary Houses Individuelle Wohnhäuser seien die Quintessenz der modernen Architektur. Mit dieser Kernaussage setzt Phililp Jodidio die Messlatte für sein zweibändiges Werk über 100 außergewöhnliche und visionäre Exemplare des modernen Eigenheims hoch an – und auf architektonischer Ebene niedrig: als Fundament. In zwei Bänden, deren erster 351 Seiten und der zweite 336 Seiten umfasst, führt der Autor durch die repräsentativen Residenzen des Hochglanzbandes. Von LIDA BACH

Reise ans Ende der Welt

Kulturbuch | Norden. Reise ans Ende der Welt Es ist ein gewichtiges Buch: großformatig, ganz schön schwer, nicht gerade preiswert. Aber was für ein Buch! »Eisig, fast menschenleer und doch faszinierend schön: So präsentiert sich die Polarregion der Nordhalbkugel mit Landschaften, die vor Staunen sprachlos machen.« Na, dafür ist ja dann ein Bildband da! BARBARA WEGMANN hat darin geblättert