Kulturbuch | Matthias Zschokke: Die strengen Frauen von Rosa Salva
Wir alle glauben, die vielbeschriebene Lagunenstadt zu kennen. Sei es aus den Blickwinkeln von Thomas Mann, Ernest Hemingway oder Donna Leon. Doch Matthias Zschokke räumt auf mit falscher Romantik und Postkartenidylle. Trotzdem ist er schlichtweg überwältigt von Venedig, sogar ›Die strengen Frauen von Rosa Salva‹ haben es ihm angetan! Von INGEBORG JAISER
Man stelle sich vor: ein sechsmonatiges Kulturstipendium in Venedig, ohne weitere Verpflichtungen, nur um Atem zu schöpfen, ganz ohne finanziellen Druck. Zur Verfügung steht eine großzügige, sonnige Atelierwohnung im dritten Stock eines altehrwürdigen Palazzos aus dem 17. Jahrhundert. Drei Schlafzimmer, ein Salon samt Flügel, ein berauschender Ausblick auf den darunter liegenden Kanal. Das alles mitten im Zentrum von Venedig – TV-Anschluss, Internetzugang und Zugehfrau inklusive.
Wundertüten und Weltbestseller
Als Matthias Zschokke im Januar 2012 eine Einladung der Forbergstiftung erhält, das zweite Halbjahr mit seiner Familie in Venedig zu verbringen, ist seine Begeisterung recht verhalten – zum einen mangels Familie, zum anderen in der Furcht, dass sich auch noch seine letzten Freunde aus Neid »mit Grausen von ihm abwenden«. Erst als der Abreisetermin näher rückt, überwiegt dann doch die Sorge um die sommerliche Stechmückenplage.
So schliddert Zschokke unverblendet und relativ emotionslos in ein außergewöhnliches Abenteuer, offenbar unbeleckt von jeglicher Vorab-Verherrlichung oder der Erwartung einer Postkartenidylle. Umso begeisterter fällt sein erster Eindruck aus: »Unglaublich, wie dicht hier alles beieinanderliegt, wie reich, bunt, verschwenderisch. Wenn ich Phantasie hätte wie Venedig, wären meine Bücher prallvolle Wundertüten und Weltbestseller.«
500 Jahre altes Disneyland
Vom Weltbestseller ist der Schweizer Schriftsteller und ehemalige Schauspieler, der seit den 1980er Jahren in Berlin lebt, denkbar weit entfernt – zu eigenwillig, zu verspielt, zu abseitig erschienen seine Texte, die sich traditionellen Erzählmustern konsequent widersetzen und neue, unbekannte Formate schaffen. Was Kritiker und Leser zuweilen in Ratlosigkeit versetzt. So driftet Zschokke trotz zahlreicher Auszeichnungen und ungebremster Schaffenskraft oft am Existenzminimum dahin und konstatiert schon zu Beginn seines Aufenthaltes in nicht nur gespielter Verzweiflung: »Ich kann mir Venedig nicht leisten. Was soll ich denn dann hier? Nichts dürfen fällt in Berlin sehr viel leichter. Dort habe ich meinen Lehnsessel und ein Klima, das nichts anderes zulässt als lesen, denken und sich nach woanders sehnen.«
Dennoch stürzt sich Zschokke kopfüber in das pure Leben, endlich einmal frei von jeglichen Produktions-, Veröffentlichungs- und Lesungszwängen. Was dennoch keine Schreibabstinenz bedeutet – ganz im Gegenteil. Denn Zschokke ist es gewohnt, beständig zu formulieren, seine täglichen Eindrücke festzuhalten und aus allen Perspektiven abzugleichen. ›Die strengen Frauen von Rosa Salva‹ fasst seinen Mailverkehr während des sechsmonatigen Venedigaufenthaltes zusammen, seine lakonischen, oft zum Schreien witzigen Nachrichten an Freunde, Verwandte, Verleger, Übersetzer. Sein bettelndes, vielstimmiges Werben um Besucher (»Ich glaube, Ihr würdet, wenn Ihr kämt, juchzen vor Vergnügen, weil es so seltsam ist, in einem fünfhundert Jahre alten Disneyland zu verbringen.«), sein Ringen mit der Hitze und der Mückenplage (»Ich triefe wie eine Schweinswurst im Backofen«), seine satte Lust an der schlichtweg überwältigenden Stadt (»Heute Abend gehe ich beispielsweise auf den Markusplatz, um dort einen Schluck aus der fast hysterischen Sightseeingpulle zu nehmen«).
Venezianische Gulaschkanone
Mit ironischem Understatement und in gespielter Abgeklärtheit berichtet er vom »morgendlichen Seniorenschwimmen« am Lido, dem fast sprichwörtlich schlechten Essen in den Lokalen (»venezianische Gulaschkanone«) und dem Möwengeschrei unter seinem Fenster (»Wastl sitzt immer noch unten auf dem Platz und fiept. Bald werde ich ihm den Bürzel versohlen, damit er wenigstens einen Grund hat für sein dummes Gewimmer.«) Und echauffiert sich zwischendrin über all die gut gemeinten Zusendungen von Venedig-Romanen und –filmen auf DVD (»Sie schicken mir ein Buch? Wann um alles in der Welt soll ich denn hier ein Buch lesen? Bedenken Sie: Da draußen liegt Venedig!«).
So amüsant und allseitig sich Zschokkes pointierte Sentenzen und Notate auch lesen, eines ist sein 400-Seiten-Werk mit Sicherheit nicht: ein Venedig-Reiseführer oder kultureller Abriss. Eher eine augenzwinkernd sympathische Abrechnung mit der vergötterten Serenissima.
Titelangaben
Matthias Zschokke: Die strengen Frauen von Rosa Salva
Göttingen: Wallstein, 2014
414 Seiten. 22,90 Euro
Reinschauen
| Leseprobe