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Ins All

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ins All

Die zehntausend Dinge, bei Lichte betrachtet, erweisen sich als relativ unkompliziert.

Wie du meinst. Susanne war nicht besonders auf Gespräch geeicht an diesem trüben Novembernachmittag. Sie hatte für Tee aufgedeckt, Yin Zhen, und las in einem Roman.

Wer kontrollieren will, ist mißtrauisch, oder?

Sie blätterte um und nickte zustimmend.

Die Meere sollen, wie es so schön heißt, »vermessen« werden, ja, in den Nachrichten, vor ein paar Tagen, eine Initiative des Weltklimarats IPCC.

Und?

Nein, keine Einwände, Susanne, wir befinden uns derzeit inmitten der Klimakatastrophe, auch wenn unsere öffentliche Wahrnehmung die Gefahren herunterspielt, und der Mensch möchte einen Überblick haben, wie sehr der Meeresspiegel in den Ozeanen ansteigt.

Tilman ließ einige Sekunden vergehen, als erwarte er einen Einwand, aber Susanne war in ihren Roman vertieft.

Als Teil des Erdbeobachtungsprogramms Copernicus werde der vor wenigen Wochen gestartete Satellit Sentinel 6 von einem neuen Kontrollzentrum der meteorologischen Satellitenagentur Europas, Eumetsat, von Darmstadt aus gesteuert und könne aus einer Höhe von mehr als 1300 Kilometern innerhalb von zehn Tagen fünfundneunzig Prozent der globalen Meeresoberfläche millimetergenau scannen.

Interessant.

Schon seit Jahrzehnten werde die Erde durch Satelliten beobachtet.

Susanne nickte.

Sentinel 6 habe ein neues, präziseres Radar an Bord, das den Anstieg des Meeresspiegels genauer verzeichnen werde, als es zuvor möglich war.

Tilman ließ einige Sekunden vergehen, als erwarte er einen Einwand, aber Susanne blieb in ihren Roman vertieft.

Die präzisen Informationen würden die Überwachung des Planeten vom All aus ergänzen, derzeit würden einige hundert Satelliten im Orbit betrieben, um die Erde zu überwachen, und im Zusammenspiel mit anderen Satelliten ließen sich Rückschlüsse auf die Dichte und Dicke von Eis ziehen, sagte er. Diese Abläufe zu beobachten, heißt es, sei wichtig, denn zum Beispiel habe sich das Abschmelzen der grönländischen Eisdecke seit den 1990er Jahren verdreifacht.

Susanne nickte.

Nein, sagte Tilman wie um einem Einwand zuvorzukommen, daran sei nichts auszusetzen, keineswegs, man müsse einer aktuellen Gefahr vorbeugen, das sei unstrittig.

Aber? Susanne blickte kurz auf.

Grundsätzlich, sagte Tilman und ließ einige Sekunden vergehen, als erwarte er einen Einwand, aber Susanne blieb in ihren Roman vertieft.

Grundsätzlich, wiederholte er, finde der Mensch da nicht heraus, die Dinge würden sich von anderen Verläufen – Verschmutzung der Meere, Zersiedelung der Landschaft, Agrarindustrie, es ließen sich Beispiele ohne Ende aufzählen – kaum unterscheiden, die Satelliten nähmen überhand, das Weltall werde vermüllt, das sei das eine, sagte er.

Susanne blickte kurz auf.

Der so selbstherrlich auftretende Homo Sapiens, zweitens, befinde sich auf dem Holzweg, sagte Tilman, er rede von einer Überwachung des Weltalls, von Kontrolle – das sei am falschen Ende aufgezäumt.

Susannes Schweigen irritierte ihn, ein Gespräch würde so nicht entstehen, doch allein in einem Gespräch ließen sich vielversprechende Gedanken herausarbeiten.

Was zu tun sei, fragte er, nein, er kenne da kein Patentrezept, woher auch, aber die grundsätzliche Haltung des Menschen sei marode, sei dekadent, er residiere in Luftschlössern über tiefen Abgründen und wolle die Gefahren nicht wahrhaben. Was sei zu tun?

Was das für ein Roman sei, fragte er sich, den Susanne las.

Was zu tun sei, wiederholte er verärgert.

Susanne blickte flüchtig auf.

Der Mensch, sagte er, wenngleich er das wortreich beschwöre, sei unfähig, sich zu integrieren, seinen Platz einzunehmen inmitten der übrigen Schöpfung, das gelte für den Planeten wie für das Weltall; denn wer darauf aus sei, zu kontrollieren, wer überwachen wolle, der sei von tiefem Mißtrauen erfüllt. Nein, er sei nicht einzigartig, weiß Gott nicht, und es gebe keinen anderen Weg als den, diese Haltung aufzugeben, er müsse Vertrauen fassen.

Tilman faßte nach der Teekanne und überlegte, ob es auch ein Stövchen mit Drachendesign gäbe, er würde sich kümmern.

Susanne blickte auf. Sie legte das Buch beiseite und hielt Tilman ihre Tasse entgegen.

Das Drachendesign war entzückend, Tilman hatte vor einigen Jahren sechs Gedecke lindgrün und eines rostrot aus Beijing mitgebracht, wo er an dem Halbmarathon auf der Großen Mauer teilgenommen hatte, und Susanne überlegte jedesmal wieder, welche Farbe ihr besser gefalle.

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