Menschliche Dämonen und dämonische Menschen

Comic | Miguelanxo Prado: Die Lethargie

Es ist der uralte Kampf zwischen Gut und Böse, der vor allem aus dem Fantasy-Genre nicht wegzudenken wäre. Dabei scheint es immer offensichtlich, wer der Held und wer der Bösewicht ist. Aber was, wenn die Bösen gar nicht wirklich böse sind? Prado hinterfragt in dem Comic ›Die Lethargie‹ (Carlsen Verlag) das Verhältnis zwischen Gut und Böse, die Rolle des Menschen im Universum und dessen Auswirkungen auf das Gleichgewicht der Natur. Von JANA FEULNER

Die LethargieDie Geschichte beginnt in einem idyllischen Wald. Ein Vater liest seinen Kindern aus einem uralten Buch vor, das von dem Zauber erzählt, der auf dem Wald liegt. Er ahnt dabei nicht, dass genau in diesem Moment längst in Vergessenheit geratene Mächte erwachen, die bisher durch einen Pakt zur Lethargie gezwungen waren. Zur gleichen Zeit findet Artur Rego, ein junger Doktorand der Archäologie, das Notizbuch eines alten Professors, das einige Rätsel aufwirft. Während Rego sich nun auf die Suche nach Antworten begibt, treffen dunkle Mächte in einem Streitgespräch aufeinander, das über den Fortbestand der menschlichen Rasse entscheiden soll. Für die dunkle Seite scheint eine geheimnisvolle Triskele von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Der Dämon Xamain beauftragt zwei Gauner, nach ihr zu suchen. Auch Artur Rego, der sich mittlerweile seine eigene Gefährtengruppe zusammengestellt hat, macht sich auf die Suche nach der Triskele, um den Dämonen zu stoppen, bevor es zu spät ist. Es beginnt ein Rennen gegen die Zeit, bei dem bis zum Schluss ungewiss bleibt, wer als erstes die Ziellinie überquert.

Prado entwirft in seinem neuen Comic ›Die Lethargie‹ nicht etwa eine Fantasy-Welt, die mit magischen Wesen besiedelt ist: Er bringt die magischen Wesen in unsere Welt. Dabei schält er Stück für Stück die Schichten einer vermeintlichen Realität. Und entfesselt dunkle Machenschaften, die nicht nur von den Dämonen, sondern zu großen Teilen von den Menschen selbst ausgeführt werden. Geschickt verwebt er die magische Welt der Dämonen und »Magiker« mit der unseren und sinniert schonungslos über die Natur des Menschen – inklusive deren dunkler Seite.

Der schmale Grat zwischen Gut und Böse

So ist es zwar der Dämon Xamain, der Menschen dazu beauftragt, die Triskele zu beschaffen, doch sind es stets die Menschen selbst, die eigentlich dämonisch handeln. Die beiden Gauner Indalecio und Lucho, die Xamain für seine Zwecke beauftragt, gehen über Leichen, um an das Geld zu gelangen, das ihnen ihr Auftraggeber bietet. Überhaupt sind es stets Menschen, die eigennützig handeln. So haben Indalecio und Lucho nur ihre materielle Bereicherung im Sinn. Sie sind nicht die einzigen, die sich als Schurken entpuppen.

Während die einen versuchen, die Welt zu retten, tragen die anderen dazu bei, ihren Untergang herbeizuführen. Doch findet hier eine Umkehrung statt. So gerät Xamain außer sich vor Wut, als er im Fernseher einen Bericht über das Leid in der Welt sieht. Es wird berichtet von 30 Millionen Menschen, die unter sklavenähnlichen Bedingungen leben müssen, von Umweltverschmutzung, Ungleichheit und Rassismus. Während Xamain also Pläne schmiedet, wie er die Erde von der Menschheit befreien kann, schimmert immer wieder seine eigene Menschlichkeit hindurch – wie herrlich ironisch! Der Dämon entpuppt sich zunehmend als gar nicht so übler Typ, der das menschliche Verhalten zutiefst verurteilt. So hilft er sogar einem Jungen auf der Straße, der in einer dunklen Ecke von Unruhestiftern ausgeraubt wird.

Eine magische Geschichte mit ernster Thematik

Mit losem Pinselstrich skizziert Prado die Welt in seinem Comic und haucht ihr mit vibrierenden Farbtönen Leben ein. Seine Figuren sind Charakterköpfe, geformt durch teils wilde Striche, die wie tiefe Kerben die bedeutungsschweren Gesichtsausdrücke durchwandern. Der Comic ist detailverliebt und sehr bunt, was die dargestellte Welt wirklich magisch wirken lässt. Fast täuscht die Buntheit darüber hinweg, dass es hier um ernste und dringliche Themen geht. Verpackt in eine Fantasy-Geschichte, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, weist Prado hier auf die Probleme des modernen Lebens hin: Umweltzerstörung, Korruption und die Hab- und Machtgier einzelner Individuen. ›Die Lethargie‹ ist ein relevanter Comic, der uns aus der eigenen Lethargie aufzuwecken vermag, auf dass wir uns selbst auf die Suche machen, nach unserem Wesen und uns den Problemen des modernen Menschen stellen.

| JANA FEULNER

Titelangaben
Miguelanxo Prado: Die Lethargie
Aus dem Spanischen von André Höchemer
Hamburg: Carlsen Verlag 2021
112 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe auf der Verlagswebseite

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein unerkannter Freund fürs Leben

Nächster Artikel

36 Inseln für perfektes Insel-Glück

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Aus heiterem Himmel

Comic | Tina Brenneisen: Das Licht, das Schatten leert Mit ›Das Licht, das Schatten leert‹ packt Comic-Künstlerin Tina Brenneisen das Tabuthema Totgeburt an – und verarbeitet den Verlust ihres Sohnes bei dessen Geburt. Das liest man nicht zufällig. Man lässt sich darauf ein, fühlt sich in die Drastik des Themas. Und wird dann doch kalt erwischt. Gelesen Von CHRISTIAN NEUBERT

Wohin laufen sie denn?

Comic | Jan Soeken: Friends Manchmal ist die Wirklichkeit schlimmer als jede Satire. Manchmal ist eine Satire aber auch viel lustiger als die Wirklichkeit. BORIS KUNZ hat sich bei der Lektüre von ›Friends‹ des deutschen Nachwuchszeichners Jan Soeken köstlich amüsiert. Aber über wen?

Kleiner Mann – was nun?

Comic | Hubert / Gatignol: Petit Mit ›Petit‹ entwirft Comicautor Hubert ein grimmiges Antimärchen zwischen ›Hans und die Bohnenranke‹ und ›Der Kleine Däumling‹. Zeichner Bertrand Gatignol findet für den Band schaurig-schöne Bilder, Rezensent CHRISTIAN NEUBERT lobende Worte. Grund für verhaltenen Tadel allerdings auch.

Illustrierte Gedankenspiele

Comic | Fábio Moon & Gabriel Bá: De:Tales Nach ihrer gefeierten Graphic Novel Daytripper hat sich BORIS KUNZ nun auch dem Frühwerk des brasilianischen Zwillingsbrüderpaares Gabriel Bá und Fábio Moon angenommen: De:Tales, eine Kurzgeschichtensammlung nach ganz ähnlichem Rezept. Die beiden vermischen Alltägliches mit einer Prise Übersinnlichem und suchen nach jenen unscheinbaren Augenblicken im Leben, denen die Magie eines Schicksalsmoments innewohnt. Das Ergebnis ist ebenfalls teils magisch, teils eher banal.