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Hui-neng

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hui-neng

Diese Dinge liegen uns fern, sagte Termoth, das Reden vom Sechsten Patriarchen klinge wie eine Erzählung aus einer stillstehenden Zeit, habe nicht Gramner ihn kürzlich erwähnt.

Als ob es das gäbe, sagte Harmat, eine stillstehende Zeit.

Kaum zu glauben, sagte Thimbleman.

Auch hier in der Ojo de Liebre, versicherte dagegen Bildoon, stehe die Zeit still.

Ob er das ernst meine, spottete der Ausguck und lächelte.

Crockeye war neugierig, er fühlte sich gut während der langen Abende vor dem Lagerfeuer, das war zwar ungewöhnlich für Walfänger, aber ein Leben nach seinem Geschmack.

Arbeit falle nicht an, sagte London.

Der Grauwal genieße eine Schonzeit, sagte Sanctus.

Sogar Eldin lächelte entspannt, seine Schulter erholte sich, es konnte nicht mehr lange dauern.

Woran man erkenne, daß die Zeit stehen bleibe, wollte Rostock wissen.

Pirelli fragte, wie man wohl Zeit anhalten wolle.

Auf dem Zifferblatt, scherzte Thimbleman.

Unfug, sagte Mahorner, alles Unfug.

Abwarten, widersprach Gramner.

Was er erzählen werde, sagte Termoth, betreffe die Ablösung von Hung-jen, einem erhabenen Meister und Leiter des Klosters, und Hui-neng, von dem die Rede sein werde, habe dessen Kloster nicht angehört, jedenfalls nicht den Mönchen, die Dinge seien verwirrend, und Shen-hsiu sei längst als Nachfolger des Vorstehers vorgesehen gewesen, die Angelegenheit gestaltete sich delikat, sagte Termoth, Shen-hsiu vertrat die traditionelle Lehre, daß die Seele wie ein klarer Spiegel sei, der durch regelmäßiges Sitzen mit gekreuzten Beinen gepflegt und rein erhalten werden müsse, damit sich kein Staub darauf ansammle. Das war die Essenz der Bewerbung, die Shen-hsiu dem Meister Hung-jen überreichte, die Angelegenheit, wie gesagt, gestaltete sich delikat.

Was das sei, fragte Bildoon, mit gekreuzten Beinen zu sitzen.

Pirelli lächelte. Wie das denn zu verstehen sei, und wozu der Spiegel, fragte er sich und fand, die Episode höre sich wirklich an, als habe jemand die Zeit angehalten. Südliches China?, fragte er.

Südliches China, antwortete Termoth. Hui-neng, des Lesens und Schreibens unkundig, habe grundlegende Texte dadurch kennengelernt, daß sie vorgelesen wurden, und um Einlaß in das Kloster zu erhalten, hatte er darum gebeten, im Kornspeicher arbeiten zu dürfen, streng von den Mönchen getrennt, und kam auf diese Weise gelegentlich mit Hung-jen in ein Gespräch, sie lernten einander kennen, Hung-jen muß ihn sehr geschätzt haben, und der Aufruf zur Bewerbung um seine Nachfolge gelangte in die Hände Hui-nengs.

Unfaßbar, empörte sich Crockeye, der Leiter des Klosters hintergeht seine Mönche.

Weshalb denn nicht, widersprach Pirelli, ihm werde die Haltung Hui-nengs imponiert haben, solle er sich denn verleugnen.

Ein Intrigant, sagte Thimbleman, er wird zum Verräter, man stelle sich das vor.

Es gibt Regeln, bekräftigte Crockeye.

Hung-jen wußte selbst, konzedierte Termoth, daß er sich auf dünnes Eis begab.

Hui-neng, sagte Termoth, bestritt die Existenz eines wie auch immer zu verstehenden Spiegels, die Wellen schlugen hoch, alles lief auf ein aufsehenerregendes Zerwürfnis hinaus, in dessen Folge sich ein Schisma, eine Aufspaltung der Lehre in eine Nördliche und eine Südliche Schule abzeichnete. Daß es keinen klaren Spiegel gebe, lehrte Hui-neng, und daß alles Leerheit sei, worauf könne sich Staub niederlassen, unmöglich.

Er verstehe kein Wort, klagte Harmat.

Eine Parabel, sagte Mahorner, Hui-nengs Text müsse als Parabel gelesen werden.

Die klösterliche Ruhe war untergraben, die Dinge entwickelten sich dramatisch, und wenngleich überliefert wird, die beiden Kontrahenten seien persönlich miteinander gut ausgekommen, erhielt Hui-neng in aller Heimlichkeit die Insignien eines Nachfolgers, mußte unverzüglich flüchten und seine Lehre nunmehr verbreiten, ohne in einem Kloster verwurzelt zu sein, er fand unter diesen widrigen Umständen dennoch sein Publikum und galt nach erstaunlich kurzer Zeit als Begründer der Südlichen Schule.

Eine Revolution, sagte Thimbleman.

Ein Glaubenskrieg, sagte Pirelli.

Weitreichende Konsequenzen, sagte Sanctus, unüberschaubar.

So könne man es verstehen, sagte Rostock.

Es handle sich um eine andere Kultur, ergänzte LaBelle.

Wer den Sechsten Patriarchen aufsuchen wolle, buche einen Flug nach Kanton, sagte Termoth mit leicht spöttischem Zungenschlag, reise von dort den Nordfluß einige hundert Kilometer aufwärts, dort vom Flußtal ostwärts in ein stilles Seitental, die Tsauschlucht, wo er auf ein berühmtes Kloster stoße, von dichtem Wald umgeben, dort auch die Pagode, in deren unterstem Geschoß, in einem heiligen Schrein bewahrt, der Sechste Patriarch, eine Mumie, von schwarz lackierter Leinwand schützend überzogen, in stiller Versenkung hocke. Doch werde diese Information seit neuestem nicht bestätigt, es heißt, sagte Termoth, die Mumie sei nach dem Weltkrieg auf unerklärliche Weise zerfallen und habe sich in Staub aufgelöst.

Es wurde still, die Männer blickten in die lodernden Flammen und hingen ihren Gedanken nach.

Es sei gut, sich zu erinnern, überlegte Termoth, und schwierig sei, die Haltung der Menschen zu treffen.

Der Ausguck nickte, stand auf und löste sich in die Nacht auf.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

| WOLF SENFF

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