Heimkehr mit Hindernissen

Roman | Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels

Am 1. August 1976 stürzte die die Wiener Bezirke Leopoldstadt und Donaustadt verbindende Reichsbrücke auf voller Donaubreite ins Wasser. Am Nachmittag desselben Tages verunglückte auf dem Nürburgring der österreichische Formel-1-Pilot Niki Lauda mit seinem Ferrari schwer. Zufall oder Koinzidenz der Ereignisse? Wenn Heinrich Steinfest solche Ereignisse in das Leben seiner Romanfiguren hereinholt, ahnen die Leser inzwischen bereits: Es wird wieder einfallsreich. Und alles, auch das Unglaublichste, ist möglich. Denn »pure Zufälle sind der Aberglaube der Aufklärung.« Von DIETMAR JACOBSEN

Auf dem Buchumschlag sieht man die Zeichnung eines WolfesLeo Prager ist wieder da. Nach genau 44 Jahren, in denen der Mann auf einer kleinen Doppelinsel im Südpazifik lebte, bringt ihn der Tod seiner Schwester Eva zurück in seine Heimatstadt Wien. Die hatte er an jenem Tag verlassen, als er zum Augenzeugen des spektakulären Einsturzes der über zwei Donauarme und die dazwischen liegende Donauinsel sich spannenden Reichsbrücke wurde, ja, dieses Ereignis sogar filmte, den Film aber nie entwickeln ließ. Als könne das, was auf ihm zu sehen sein würde, dadurch ungeschehen gemacht werden.

Nun aber muss er sich der Vergangenheit stellen. Zumal der gewaltsame Tod seiner Schwester aufgeklärt werden will und der etwas durcheinander wirkende Chefinspektor Kurt Rosig sich vom Bruder des Mordopfers einige neue Erkenntnisse bezüglich des Tatmotivs verspricht. Und so gerät der Held von Die Möbel des Teufels nicht nur in eine ihn persönlich betreffende, unangenehme Gegenwartsgeschichte, sondern auch in Konflikt mit den eigenen Erinnerungen.

Cheng und der Schatten eines Hundes

Wenn Heinrich Steinfest einen neuen Roman vorlegt, muss man auf alles gefasst sein. Da können sich Kriminalkommissare blitzschnell in ordinäre Spatzen verwandeln. Oder auf einer Wiese mitten in Österreich geht zu nächtlicher Stunde genau jener russische Satellit »Sputnik 2« nieder, mit dem 1957 die Hündin Laika ins Weltall geschossen wurde. Inzwischen schreibt man freilich das Jahr 2019. Doch Laika ist putzmunter und sorgt weltweit für nicht gerade geringe Aufregung.

Man könnte diese irrwitzigen Einfälle aus zwei jüngeren Werken – Das Leben und Sterben der Flugzeuge (2016) und Der Chauffeur (2020) – des 1961 im australischen Albury geborenen Autors beliebig fortsetzen. Zum Beispiel mit Motiven aus den fünf Bänden um den Wiener Privatdetektiv Markus Cheng, die Steinfest zwischen 1999 und 2019 veröffentlichte. Der einarmige Ermittler, der nur noch vom Schatten seines toten Hundes Lauscher begleitet wird, einer unsicht-, aber spürbaren Präsenz, taucht auch in Die Möbel des Teufels noch einmal auf. Aber er hat den Platz mit seiner Sekretärin, Frau Wolf, getauscht. Die ist jetzt Chefin, Cheng spielt Sekretär. Weshalb der Roman im Untertitel auch  Frau Wolf und Cheng ermitteln heißt. Tempi passati.

No Milk today

Allein so große Rollen spielen alle beide auf den etwas mehr als 400 Seiten des Romans gar nicht. Wie das bei guten Detektiven immer der Fall sein sollte, wirken sie mehr im und aus dem Hintergrund. Auf der beleuchteten erzählerischen Vorderbühne wird freilich genug geboten. Denn schnell stellt sich heraus, dass die in Kurzschriften vernarrte Parlamentsstenografin Eva Prager allerhand Geheimnisse mit ins Grab genommen hat. Zum Beispiel das ihrer wertvollen Bibliothek, in der Leo nicht nur auf Erstausgaben von Ludwig Wittgensteins Tractatus und Kants Kritiken sowie das Bürgerliche Kochbuch für die sparsame Hausfrau stößt, sondern auch auf ein knapp 70 Seiten umfassendes Büchlein mit dem Titel Die Möbel des Teufels.

Allein wer der Autor eines Werkes ist, in dem zehn Jahre vor dem tatsächlichen  Einstürzen der Reichsbrücke genau dieser Einsturz auf den Tag genau als Folge eines Bombenattentats beschrieben wird, bleibt vorerst im Dunkeln. Und dunkel wird es auch urplötzlich um Leo Prager, dem ohnehin seine »impressionistische Krankheit«, eine Makuladegeneration, das Augenlicht zu nehmen droht. Denn es gibt offensichtlich Kreise, denen das Stöbern des Mannes in den Geheimnissen seiner Schwester nicht ins Konzept passt. Und die befördern den neugierigen Bruder erst einmal mittels eines Autocrashs in ein dreiwöchiges Koma.

Daraus erwacht, klärt er mit Hilfe der grünäugigen Kriminalassistentin Roswitta Bregenzer, einer Wahrsagerin und Ex-Prostituierten, die er am Grab seiner Schwester kennen und später lieben lernt, sowie der das Frauenduo zum Trio feminale erweiternden Detektivin Wolf nicht nur das Verbrechen an seiner Schwester auf, sondern verfolgt auch den Weg einer geheimnisvolle Formel. Letztere bezieht sich auf ein weißes Pulver namens »Milk«, leicht zu verwechseln  mit der sonst üblichen Dealerware, aber viel gefährlicher, weil es verspricht, Computern selbständiges Denken beizubringen. Und wenn sich die Technik vom Menschen emanzipiert und eine eigene, wahrhaft »vernünftige« Vernunft entwickelt – wo soll dann noch der Mensch seinen Platz finden auf der Stufenleiter der Evolution? In der zweiten Reihe oder gar noch weiter hinten?

Leben im »neuen Biedermeier«

Also besser vernichten, was ansonsten droht, die Menschheit auf eine höhere moralische Stufe zu erheben. Denn weder Staatenlenker noch Großkriminelle brauchen »bessere Menschen«, die ihnen dann mit Hilfe schlauerer Computer die Geschäfte verderben würden. »Es ist nicht Sinn und Zweck des Erdenlebens, die Menschen besser werden zu lassen. Wir gehen durch eine Hölle, das ist der Sinn und Zweck«, bekommt Leo deshalb von einer den Wiener Unterwelt beherrschenden Frau zu hören, als er ihr die erste und einzige Probe der Wunderdroge ausliefern muss.

Wer Romane von Heinrich Steinfest nacherzählen will, bekommt immer Probleme. Zu viel versammelt der Mann jedes Mal zwischen zwei Buchdeckeln. Da müsste man schon unendlich Platz haben, um jeden Einfall, jeden Sprachwitz, jede gelungene Formulierung zu würdigen – auch wenn vieles davon es wie immer bei diesem Autor verdiente, erwähnt bzw. zitiert zu werden. Nur so viel deshalb noch: Die Möbel des Teufels spielt im Pandemie-Jahr 2020. Es wird stark auf Abstand geachtet, was die Liebesbemühungen des Leo Prager nicht unbedingt einfacher macht.

Und während eine von Politikern und Virologen gut instruierte Kriminalassistentin im Kofferraum ihres Autos hortet, was plötzlich unverzichtbar geworden scheint – »Schutzhandschuhe und Masken und ein Desinfektionsmittel […] und natürlich eine Packung geheiligtes Klopapier, das in vielen Märkten ausverkauft war« –, steigt in den Wohnungen der Menschen und an ihren zu großen Teilen ins Homeoffice verlegten Arbeitsplätzen »der vom Seifenschaum übergehende Waschtisch« zum »Weihwasserbecken der neuen Zeit« auf. Einer Zeit, die Leo Pager vorkommt wie ein »neues Biedermeier«, in dem der Mensch, zurückgeworfen auf sein Privatestes, aus seinem Heim, das er zuvor jederzeit und in alle Himmelsrichtungen verlassen durfte, ein Refugium von »kammermusikartige[r] Atmosphäre« gemacht hat, wie man es früher, freilich ohne die ganze die Gegenwart beherrschende Elektronik, auf Gemälden und Miniaturen der Biedermeierzeit bewundern konnte.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels
Frau Wolf und Cheng ermitteln
München: Piper 2021
430 Seiten. 16.- Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mein Schatten ist bunt

Nächster Artikel

Wenn ein Buch dreidimensional wird

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Barrikaden, Hindernisse

Gesellschaft | Frank Niessen: Entmachtet die Ökonomen! Warum die Politik neue Berater braucht Die universitäre ökonomische Lehre sieht sich nicht erst seit heute heftiger Kritik ausgesetzt. Denn die Öffentlichkeit wundert sich zurecht, dass eine aufwendig situierte Wissenschaft weder in der Lage ist, krisenhaften Tendenzen gegenzusteuern noch die Symptome zuverlässig zu kurieren. Mit dieser Problematik setzt sich Frank Niessen auseinander, ein Ökonom, der nicht in den universitären Betrieb integriert ist, die Verhältnisse von außen betrachtet und zu einem vernichtenden Urteil gelangt. Von WOLF SENFF

Not eines Kritikers

Roman | Volker Hage: Die freie Liebe »Ich habe ja lange gewartet und bin eigentlich auch ganz froh, jetzt erst, nachdem ich als Literaturredakteur aufgehört habe, mit diesem Buch herauszukommen. Es ist ein Buch, an dem ich viele Jahre geschrieben habe«, bekannte Volker Hage, einst Reich-Ranicki-Schüler bei der ›FAZ‹, später bei ›ZEIT‹ und ›SPIEGEL‹ einer der einflussreichsten deutschsprachigen Literaturkritiker, über seinen Romanerstling ›Die freie Liebe‹. Von PETER MOHR

Auf den Spuren von Rilke und Vogeler

Roman | Klaus Modick: Konzert ohne Dichter »Rilke hatte etwas sehr Elitäres, dem Leben Abgewandtes. Er hat ja quasi so eine Kunstreligion begründet, in der natürlich er der Hohepriester war. Bei Vogeler ist das relativiert, durch seine Hinwendung zum Kunsthandwerk«, heißt es im neuen Roman des 63-jährigen Autors Klaus Modick, in dem wir uns auf eine Zeitreise ins frühe 20. Jahrhundert begeben. Klaus Modicks neuen Roman ›Konzert ohne Dichter‹ hat PETER MOHR gelesen.

Klavier spielen auf dem Cello

Roman | Natascha Wodin: Nastjas Tränen

»Die Treppe herauf kam eine sehr schmale, schüchtern wirkende Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte, aber aussah wie ein Mädchen. Sie trug Jeans und einen Rucksack auf den Schultern.« So beschreibt die inzwischen 76-jährige Schriftstellerin Natascha Wodin die Protagonistin ihres neuen Romans Nastjas Tränen. Wodin, deren literarisches Werk durchgehend einen autobiografischen Background hat, war vor vier Jahren für ihren Roman Sie kam aus Mariupol mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Darin hatte sich die Schriftstellerin, die als Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter 1945 in einem Lager in Franken geboren wurde, in leisen Tönen dem Leben ihrer Mutter angenähert. Von PETER MOHR

Urlaub auf der Body-Farm

Roman| Simon Beckett: Leichenblässe

Die eine Buchhandelskette schaltet zum Erscheinen Radiospots, der andere Filialist räumt den drei bis dato erschienen Bänden eine ganze Regalwand zur Präsentation ein und in den Bestsellerlisten gelingt ihm auf Anhieb der Sprung an den ›Biss‹-Büchern von Stephenie Meyer vorbei unter die ersten drei – die Rede ist von Simon Becketts drittem Thriller um den forensischen Anthropologen David Hunter mit dem schönen Titel ›Leichenblässe‹. Ist angesichts des großen Werbeaufwands der Roman tatsächlich die Mühe des Lesens wert? Nein, sagt BEATE MAINKA