Remember how to love

Jugendbuch | Hansjörg Nessensohn: Mut. Machen. Liebe

Beim Wandern durch Italien trifft ein junger Mann auf eine alte Frau. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen unterwegs und könnten verschiedener nicht sein. Schritt um Schritt kommen sie sich näher. Von ANDREA WANNER

Mut Machen LiebePaul ist unterwegs, um sich Klarheit über sich und seine Situation zu verschaffen. Angeblich soll man ja beim Pilgern zu nachdenken kommen und die Gedanken würden sich dann plötzlich in Nichts auflösen. So einen Zustand wünscht er sich – und könnte weiter nicht davon entfernt sein. Zum einen drücken die Schuhe, denkbar wanderungeeignet, zum anderen ist da die Wut auf Jonas. Mit ihm hat er einen wunderbaren Sommer erlebt, war verliebt und im siebten Himmel – und wurde dann verraten. Das ist zumindest seine Version der Geschichte.

Zu allem Überfluss trifft er in diesem Zustand auf Liz. Die alte Frau provoziert ihn durch ihre Kommentare und Fragen, er ist einfach nur genervt. Und dann soll er sich auf einer Pilgeretappe auch noch ein Zimmer mit ihr teilen. Unvorstellbar. Aber dann beginnt Liz, aus einem Buch vorzulesen. Immer faszinierter hört der 19jährige der Geschichte von Helmut und Enzo zu.

Es ist der Sommer 1975 in Köln. Helmut ist auf dem Weg, Beamter zu werden und mit Marlene verlobt. Im Rheinpark in einer Gondel auf dem Gelände der Bundesgartenschau macht er ihr bei der Fahrt über den Rhein einen Heiratsantrag: »Liebe Marlene, du bist die schönste und lustigste und klügste Frau, die es gibt. Und obwohl ich nicht genau weiß, was du ausgerechnet an mir findest, aber weil du der wichtigste Mensch in meinem Leben bist und ich dieses Leben nur mit die verbringen möchte und ich dich liebe … will ich dich fragen, ob du meine Frau werden willst.«

Marlene, Tochter aus reichem Hause ist glücklich und einer gemeinsamen Zukunft steht eigentlich nichts mehr im Wege. Aber kurz zuvor hat Helmut Enzo kennengelernt und zum ersten Mal in seinem Leben wirklich Schmetterlinge im Bauch gespürt.

Liebe zwischen zwei Männern ist verboten. Der Paragraph 175 bestrafte einvernehmliche Beziehungen gleichgeschlechtlicher Liebe unter Erwachsenen. Bereits 1871 eingeführt, wurde er erst 1994 endgültig abgeschafft.

Das Tolle an Nessensohns Buch ist, dass er die Leserinnen und Leser mitnimmt in eine Zeit, in der Schwulsein noch ein wirkliches Problem darstellte. Helmut riskiert nicht nur seine Karriere, wenn er sich zu Enzo, den fröhlichen, gutaussehenden italienischen Gastarbeiter bekennt. Er riskiert es, im Gefängnis zu landen, gesellschaftlich geächtet zu werden für den Rest seines Lebens. Und weiß doch, dass er in Enzo die Liebe seines Lebens gefunden hat. Geschickt ist dieser Handlungsstrang mit der Homosexualität von Paul verknüpft. Sich heute als schwul zu outen, ist nicht mehr gefährlich. Aber ist es schon selbstverständlich, dazu stehen zu können.

Paul und Liz kommen ins Gespräch, teilen manche Gedanken und behalten andere für sich. Sie kommen sich näher und Paul will immer dringender wissen, welche Rolle Liz in der Liebesgeschichte in jenem Sommer gespielt hat.

Wie persönlich dieses Buch ist, spürt man in der Kurzbiografie Nessensohns. »Hansjörg Nessensohn, geboren und aufgewachsen am Bodensee, studierte Medienwissenschaft in Thüringen und lebt seit 2006 in Köln zusammen mit einem Freund.« Und dann folgt der Satz: »Dass dieses belanglose Satzende hier einfach so stehen kann, das wurde ihm beim Schreiben von ›Mut. Machen. Liebe‹ mal wieder bewusst.«

Das bewegende Buch zeigt starke Persönlichkeiten mit ihren Schwächen, was sie glaubwürdig und sympathisch macht. Mit den Heldinnen und Helden der Geschichte mitzufiebern, mitzuleiden und ihnen die Daumen zu drücken, passiert ganz von selbst. Ihr Weg ist kein leichter, aber das Cover mit einem regenbogenfarbenen Weg, dem Erkennungszeichen der LSBTIQ*-Bewegung macht Mut, ihn zu gehen. Ein ergänzender Text am Ende von Joachim Schulte, Bürgerrechtler und Sprecher von QueerNet Rheinland-Pfalz liefert ergänzendes Hintergrundswissen.

Paul kommt am Ende in Rom an. Es ist das Ende dieser Geschichte und der Anfang einer neuen. Immerhin hat er die Antwort auf die Frage gefunden, wer er ist.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Hansjörg Nessensohn: Mut. Machen. Liebe.
Berlin: Ueberreuter 2021
344 Seiten, 18 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die schwere Bürde eines guten Lebens

Nächster Artikel

Ein Mönch fährt in die Ferne

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

»Müssen« müssen

Kinderbuch | Henning Löhlein, Charlotte Habersack: Wenn ich aber nicht muss! Wer kennt diese Situation nicht: man steht fix und fertig angezogen da, hat alles zusammen, Schlüssel, Geldbeutel, Hut und Schirm, kann endlich, endlich aufbrechen und dann … verschwindet man sicherheitshalber noch einmal im Stillen Örtchen. Was bei Erwachsenen längst zum ‚sicherheitshalber’ geworden ist, ist für Kinder, besonders für recht kleine, eine ganz schreckliche Geduldsprobe. Ausgedacht, einzig und allein, um die Kleinen zu ärgern, daran gibt es keinen Zweifel. Henning Löhlein und Charlotte Habersack präsentieren mit Wenn ich aber nicht muss! genau so eine Geschichte, mit Verve und Witz und

Bis zum Abwinken

Jugendbücher | J. Gridl: Das Leben meines besten Freundes / B. Pfeiffer: Celfie und die Unvollkommenen Der Winter ist die Zeit zum Schmökern, dementsprechend sind die Büchertische bestückt. Abenteuerliches kommt gut an, ob um jeden Preis ist allerdings fraglich. Von MAGALI HEIẞLER

Album für die Jugend

Jugendbuch | Hemley Boum: Gesang für die Verlorenen Die Vergangenheit kennen, sei wichtig, heißt es, um die Gegenwart beurteilen zu können. Die Behauptung enthält offenbar Wahres, sonst würden sich nicht so viele eifrig bemühen, Geschehenes gründlichst vergessen zu machen. Ereignisse aus dem Unabhängigkeitskampf Kameruns, etwa. Hemley Boum hat einen Roman darüber geschrieben. Nicht zuletzt für die Jungen. Von MAGALI HEIẞLER

Wie es sich anfühlt, wenn man vor den Nazis gerettet werden muss

Jugendbuch | Peggy Parnass: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete Man weiß es ja. Man hat davon gehört. Es gibt sogar ein paar Bücher darüber, dass jüdische Eltern ihre Kinder nach England oder Schweden schicken durften und ihnen dadurch das Leben retteten. Es kann einer insgeheim ganz wohlig werden bei dem Gedanken, geht es doch ums Gerettet werden. Gut, dass es Peggy Parnass gibt. Sie war eines dieser Kinder und erzählt, wie es sich wirklich anfühlt, wenn man von den Eltern derart gerettet werden muss. Von MAGALI HEISSLER

Mogelpackung

Jugendbuch | Clare Furniss: Das Jahr, nachdem die Welt stehenblieb Der Tod der Mutter ist eine große thematische Herausforderung, zumal in einem Roman für Teenager. Es verlangt Auseinandersetzung mit Verlust, Trauer und deren Bewältigung, und zwar ehrliche Auseinandersetzung. Der Debütroman der englischen Autorin Clare Furniss ›Das Jahr, nachdem die Welt stehenblieb‹ will genau das sein, bliebt aber in der Schilderung viel zu sehr an der Oberfläche und wird so zur Mogelpackung in puncto Gefühlen – meint MAGALI HEISSLER