/

Auf sein Gefühl vertrauen, kann manchmal tödlich sein

Roman | Candice Fox: 606

Aus dem fiktiven Hochsicherheitsgefängnis Pronghorn in der Wüste Nevadas entfliehen fast sämtliche Insassen, 606 teils schwerkriminelle Häftlinge. Captain Celine Osbourne, die Leiterin des Todestrakts der Anstalt, ist vor allem daran interessiert, einen der Flüchtigen schnell wieder einzufangen: John Kradle, vor fünf Jahren wegen dreifachen Mordes verurteilt. Der freilich will die unverhoffte Gelegenheit dazu nutzen, endlich seine Unschuld zu beweisen und den wahren Mörder seiner Frau, seines Sohnes und seiner Schwägerin zu finden. Allerdings heftet sich gleich als die Gefängnismauern hinter ihm liegen ein gefährlicher Psychopath an seine Fersen. Und auch U.S. Marshal Trinity Parker, nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel, setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um die entwichenen Schwerverbrecher schnellstmöglich wieder hinter Gitter zu bringen. Condice Fox 606 gelesen von DIETMAR JACOBSEN

Celine Osbourne hat als Siebzehnjährige ihre gesamte Familie durch den Amoklauf eines Verwandten verloren. Statt über Brüder und Cousins wacht sie deshalb gut zwanzig Jahre später über gefährliche Schwerverbrecher, psychopathische Serienmörder und Naziterroristen im Todestrakt des Gefängnisses Pronghorn mitten in der Wüste von Nevada. Sie ist stolz darauf, das Gesindel von der Straße fernzuhalten, wo es, davon ist sie überzeugt, Furchtbares anrichten würde.

Ein besonderer Dorn im Auge ist ihr dabei John Kradle, der für den Dreifachmord an Frau, Sohn und Schwägerin verurteilt wurde. Als der einen raffiniert geplanten Gefängnisausbruch, in dessen Verlauf 606 Gewaltverbrecher auf einmal ihre Zellen hinter sich lassen, dazu nutzen will, nach fünf Jahren Hochsicherheitsknast endlich seine Unschuld unter Beweis zu stellen, versucht sie alles, um ihn schnellstmöglich wieder einzufangen. Denn wenn es um Gewaltverbrechen an Familienmitgliedern geht, versteht Celine seit dem traumatisierenden Vorfall in ihrer eigenen Familie keinen Spaß.

Die größte Menschenjagd in der US-Geschichte

Also macht sie sich gemeinsam mit der knallharten Trinity Parker, die als U.S. Marshal schon einige Katastrophen er- und überlebt hat, auf, um die in alle Himmelsrichtungen verschwundenen Verbrecher wieder einzufangen. Allein Kradle weiß um die besondere Beziehung, die Osbourne zu ihm aufgebaut hat, während er die vergangenen fünf Jahre hauptsächlich damit beschäftigt war, sich vorzustellen, wie er den wahren Mörder seiner Familie finden und bestrafen könnte.
Nun, da er sich plötzlich auf freiem Fuß sieht, reißt seine Verbindung zu der Wärterin, die ihn von allen Häftlingen am meisten zu hassen scheint, nicht ab. Und während Celine dem Mann immer näher kommt, beginnt sie gleichzeitig daran zu zweifeln, ob ihr Instinkt, der sie in Kradle immer nur das absolut Böse sehen ließ, einen Psychopathen, der kaltblütig diejenigen tötete, die ihm am nächsten standen, nicht getäuscht hat.

Es ist wieder einmal ein kleines Kunststück, das Candice Fox mit 606 zustande bringt, indem sie einen weltrekordverdächtigen Gefängnisausbruch literarisch an keiner Stelle ausufern lässt. Denn ihr Roman hängt sich nicht an die Fersen von zu vielen der Flüchtigen, was über eine Länge von fast 500 Seiten sicher auch ermüdend gewesen wäre. Stattdessen werden hauptsächlich zwei Handlungsfäden verfolgt: der Weg John Kradles zum wahren Mörder seiner Familie und die Geschichte um einen flüchtigen Naziterroristen, der mit einem im Gefängnis geplanten Anschlag einen Rassenkrieg zu entfesseln gedenkt, in dessen Verlauf eine neue, von Weißen dominierte Weltordnung entstehen soll.

Handwerklich solide und nicht ohne Humor

Candice Fox‘ neuer Thriller, der achte, seit die in Sydney lebende Autorin mit Hades (2014, deutsch 2016) ihr sensationelles Debüt feierte, braucht nicht lang, um in die Gänge zu kommen. Und das atemberaubende Tempo, das er dann aufnimmt, behält er auch bis zur allerletzten Seite bei. Handwerklich solide sind sowohl die einzelnen Handlungsfäden miteinander verknüpft als auch die Kapitel eingebaut, in denen die Vergangenheit von John Kradle und Celine Osbourne im Rückblick erzählt wird.

Seitenhiebe auf durchgeknallte Fernsehshows, alltäglichen Rassismus sowie die Anfälligkeit der Amerikaner für Spiritismus, sonstigen Hokuspokus und rechtsradikales Gedankengut verweisen auf eine durch die und nach der Trump-Präsidentschaft gründlich veränderte Realität.

Dass auch Humor durchaus zu Candice Fox‘ Stilmitteln gezählt werden darf, wird auch an etlichen Stellen in 606 deutlich. Leider hat es der Verlag versäumt, die Übersetzerin des Romans mit ein paar biographisch-bibliographischen Angaben für ihre Arbeit zu belohnen, wie das hierzulande langsam üblich wird. Doch so, wie Andrea O’Brien die letzten Romane der Australierin übersetzt hat, wird man das beim nächsten Buch sicherlich nachholen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Candice Fox: 606
Aus dem australischen Englisch von Andrea O’Brien
Berlin: Suhrkamp Verlag 2021
468 Seiten. 16,95 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Candice Fox in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zerbrechlich

Nächster Artikel

1, 2, 3 … ich komme!

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Oh Mannomann

Film | Im TV: Tatort – Freddy tanzt (01. Feb. 2015) Hikikomori, ja, Menschen, die sich völlig zurückziehen, den Kontakt außerhalb der Wohnung auf absolutes Minimum oder auf Null reduzieren, dann wird ihnen morgens Milch, auch Brötchen und Scheibe Käse von Restfreund oder Familie vor die Tür gestellt. Japan. Das ist schon ein merkwürdiges Haus, auf das Ballauf und Schenk schließlich ihre Ermittlungen konzentrieren. Katja Petersen im obersten Geschoss ist so ein Typ à la Hikikomori, hat aber für ihren Rückzug auch andere Gründe. Von WOLF SENFF

Da hat man sich viel vorgenommen

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Dicker als Wasser (WDR), 19. April Dieser Fall führt uns tief in die Vergangenheit, auch ein Krimi hat seine Stereotypien, seine Schablonen, die ihm Struktur verleihen, als da wären der Actionfilm, der Psycho-Krimi, das Whodunnit-Muster, die Erpressung, die Beziehungstat usw. usf., die Welt ist bunt. Dieser ›TATORT‹ rückt vor allem die Vergangenheit gerade. Von WOLF SENFF

Undercover bei der »Rhino Force«

Roman | Richard Crompton: Hell’s Gate Mit seinem Roman Wenn der Mond stirbt hat der britische Ex-Journalist und ehemalige BBC-Produzent Richard Crompton im letzten Jahr nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht.Nun liegt mit Hell’s Gate das zweite Abenteuer seines Massai-Polizisten Mollel vor. Nicht ganz so spektakulär und blutrünstig wie sein Vorgänger, der während der von Gewalt und Stammesfehden geprägten kenianischen Präsidentschaftswahl im Dezember 2007 spielte, führt sein neuer Fall Mollel in die kenianische Provinz und konfrontiert ihn mit Korruption und latenter Gewalt. Von DIETMAR JACOBSEN

Auf dem Treppchen

Film | Im TV: ›TATORT‹ Grenzfall (ORF), 8. März, 20:15 Uhr In der Mitte der Thaya verläuft die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich. Ja, Tschechoslowakei, so hieß das Land damals, der Auslöser des Geschehens liegt lange zurück, 1968! Erinnern wir uns an den ›Prager Frühling‹, und dass die politische Spannung lebensgefährlich wurde nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen, ›Kalter Krieg‹ at its best – und Flüchtlinge drängten nach Österreich. Von WOLF SENFF

Femme fatale, männerverschlingend

Film | Im TV: Tatort – Am Ende des Flurs (BR), 4. Mai Schön, man kann sagen, da zieht ein Täter von Anfang bis Ende sein Ding durch, konsequent, in aller Unschuld, einverstanden, kein Einwand. Wie so oft beginnt das Geschehen vergleichsweise unauffällig. Lisa Brenner, die bis vor anderthalb Jahren ein Verhältnis mit Franz Leitmayr hatte – man weiß davon noch nicht, der Herr Kommissar mag nicht mit der Sprache herausrücken, das wird ihm noch leidtun –, nun stürzt sie aus dem zwölften Stock. Wie sich bald herausstellt, trank sie den Champagner nicht alleine. Von WOLF SENFF