Die Geschichte beginnt damit, dass der Held kopfüber in zäher Fuchskacke steckt. Es ist der Anfang eines grandiosen Abenteuers – und wirklich große Kinderliteratur, findet ANDREA WANNER.
Nein, es bleibt nicht der einzige Schlamassel, aus dem Jonny Ameise wieder rauskommen muss. Er ist und bleibt ein Versager, der nicht so viel schleppen kann wie seine Ameisenschwestern, dessen Geruchssinn schlechter ist und der viel zu plump und dick ist für die filigranen Gänge des Ameisenbaus. Jonny passt nicht nur nicht rein, er passt irgendwie gar nicht so wirklich zu den Ameisen. Und wie das mit Außenseitern so ist: Sie werden gerne mal gemobbt. Auch Jonny wird das Opfer derber Späße und fieser Aktionen. Irgendwie übersteht er das alles, denn er hat eine wunderbare Freundin, Butz. Sie hält zu ihm, munter ihn auf, sorgt dafür, dass alles doch nicht so schlimm ist, wie richtige Freunde das eben machen. Aber als Jonny erfährt, dass er an einer schrecklichen Krankheit leidet, dem hochansteckenden Brummps, weiß er, dass er fortmuss.
Das könnte einfach ein weiteres spannendes Abenteuer aus der Welt der Insekten sein. Aber die Autorin ist Dita Zipfel, die mit ihrem 2019 erschienenen Jugendbuchdebüt ›Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte‹ unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Eine junge Stimme, die auch dieses Kinderbuch unkonventionell und anders erzählt, als man das erwartet. Es gibt einen Erzähler, der alles weiß, was es in der Geschichte zu wissen gibt. Aber er verrät nicht wirklich, wer er ist. Man kann rätseln und spekulieren, vermuten. Er thront über allem, kennt die Geheimnisse der Vergangenheit und wohl auch die der Zukunft. Ansonsten hält er sich zurück, mal mehr, mal weniger. Und dann ist da Jonny, unser Held, der ein Antiheld par excellence ist. Was er anpackt, geht schief. Das nagt natürlich an seinem Selbstwertgefühl. Ständig merkt er, dass er anders ist als die übrigen Ameisen. Dabei will er doch nur dazugehören, akzeptiert werden, sein, wie alle. Aber es scheitert schon daran, dass für ihn alle Ameisen gleich aussehen: keine gute Voraussetzung für Beziehungsaufbau und dafür, die, die es gut mit ihm meinen, von denen zu unterscheiden, die ihn mal wieder nur reinlegen wollen.
Jonnys Problem ist ein echtes. ›Sie nannten ihn Ameise‹ – aber er ist keine. Dita Zipfel war noch gar nicht geboren, als 1978 die italienisch-deutsche Action-Komödie ›Sie nannten ihn Mücke‹ 1978 in die Kinos kam. Unter Mücke einer stellt man sich jemand anderen vor als Bud Spencer, der die Titelrolle spielt. Auf Italienisch heißt der Film ›Lo chiamavano Bulldozer‹ und ein Bulldozer trifft es schon eher. Auf jeden Fall ist Mücke ein Kraftpaket und in einem Running Gag wird er aufgefordert, eine Tür zuzumachen, wobei die jeweilige Tür kaputtgeht oder endlos hin und her schwingt und Mückes Muskeleinsatz zu weiteren Nebenwirkungen führt. So ähnlich ist das bei Jonny auch. Nur: Jonny leidet. Fast ein bisschen kafkaesk schildert hier ein Käfer, dass er sich im falschen Körper fühlt. Aber Gregor Samsa kennt seine wahre Identität, Jonny nicht. Er hält sich für die missratene Ameise, die den eigenen Leib und seine Funktionen permanent missversteht. Aber wie soll er sich auch selbst auf die Spur kommen, wenn er Ameisenmaßstäbe anlegt?
Dita Zipfel leuchtet diesen Konflikt ebenso kindgerecht wie konsequent aus. Jonny ist das Problem – weil die Voraussetzungen seines Lebens nicht stimmen. Dass die Ameisenkönigin den Irrtum, der es zunächst war, nicht als solchen aufklärt: na ja, unfehlbare Monarchin halt. Und die anderen? Sehen sie wirklich nicht, wer und was Jonny ist? Vielleicht braucht es dazu einen unverstellten Blick von außen, von jemand, der sieht und begreift.
Und dann gibt es auch noch die Illustrationen von Bea Davies. Davies zeichnete einen Webcomic, ›A Child´s Journey‹, als ihr Kind geboren wurde, und betrachtete ihn als Übung, die Welt aus der fremden Perspektive ihres Kindes wahrzunehmen. So wie sie sich jetzt konsequent bemüht, die Welt aus der Sicht eines kleinen, krabbelnden Tieres zu sehen. Rot und blau ist die Welt, in der sich Ameisen und Käfer bewegen. Oft ist der Druck der Farben zart und zurückhaltend, wodurch die Welt fragil wirkt. Da, wo die beiden Farben sich überlagern, werden sie zu einem tintigen Dunkel, das die Dramatik unterstreicht. Auf dem Schatten leuchtet dann der weiße Text um so heller. Davies lässt die Ameisen kichern und giggeln, wuseln und wimmeln. Ihr besonderes Augenmerk widmet sie aber Jonny, dessen kugeliger Leib über die Seiten kullert und rollt, sich dreht und vergräbt, tanzt und schließlich – nein, das wird nicht verraten.
Vielleicht lassen wir am Ende den großen Unbekannten, den Erzähler, zu Wort kommen: »Du hast geglaubt, die großen Geschichten von Liebe, Freundschaft und Tod spielen nur unter Menschen«. Wirklich? Wer es geglaubt hat, weiß es am Ende dieser Geschichte besser.
Titelangaben
Dita Zipfel: Brummps. Sie nannten ihn Ameise
Mit Illustrationen von Bea Davies
München: Hanser 2022
136 Seiten, 15 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren
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