/

Kultur

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kultur

Farb, sagte Tilman.

Angenehm, sagte Anne.

Sie gingen auf die Terrasse und setzten sich, Farb bewunderte den Blick auf das Gohliser Schlößchen, das ja über den Maler Oeser und dessen Freundschaft mit Goethe in der deutschen Kultur verwurzelt sei, und habe Oeser dort nicht ein Fresco gestaltet.

Ihr kennt euch vom Toten Meer, fragte Anne.

Tilman ging zur Küche, Tee aufzugießen.

Anne bot Farb einen Keks an.

Farb konnte sich nicht sattsehen, diese Stadt gefiel ihm.

Wie still es ist, sagte er, und ja, sie hätten einander am Toten Meer kennengelernt.

Was für ein besonderer Ort, sagte Anne.

Er halte sich regelmäßig dort auf, sagte Farb, aus gesundheitlichen Gründen, das Klima sei wohltuend, die Sonne lebensspendend, er begegne dort Menschen aus aller Herren Länder, und schließlich – was pflege man mehr als seine Gesundheit.

Tilman schenkte Tee ein und stellte die Kanne auf das Stövchen.

Nein, nicht als Tourist, ergänzte Farb, wo du als Tourist hinfährst, bist du eh falsch sortiert, was erwartet ein Tourist: Abwechslung, er will unterhalten sein, neue sehenswerte Orte, doch was heiße sehenswert, schon das sei irreführend, heftig irreführend, versteht ihr, im Grunde sei touristisches Reisen ein Betrug, nichts als planmäßige Täuschung, lärmendes Bohei, teuer erkauft, versteht ihr, und wozu all das.

Durch Corona, glaube er manchmal, sagte Tilman, gehe das Fundament der Zivilisation verloren.

Anne erschrak und trank einen Schluck Tee. Wie er das meine, wollte sie wissen.

Das ergebe durchaus Sinn, erklärte seinerseits Farb, denn der Planet, vom Menschen heruntergewirtschaftet, sei in einem jämmerlichen Zustand, alles Lebendige sei in hohem Maße gefährdet, die natürlichen Rhythmen kollabierten, Extremlagen nähmen zu, und wer könne so naiv sein und annehmen, der Mensch werde verschont bleiben.

Tilman aß ein Vanillekipferl.

Corona, erklärte Tilman, greife nach dem elementaren Miteinander, nach dem bloßen Beisammensein, nach der menschlichen Nähe.

Das sei nun einmal Kennzeichen jeder Seuche, wandte Anne ein.

Die Ansteckungsgefahr sei immens, sagte Tilman, gemeinsame Aktivitäten würden erheblich reduziert, das gelte für Sport genauso wie für Kultur, das Land liege komplett unter Anästhesie, und niemand könne sagen, wie lange das anhalten werde.

Ob es überhaupt ein Ende nehme, sagte Farb, denn das Virus sei flexibel, es trete periodisch in neuen Varianten auf, und jede Seuche reiße Schneisen.

Tilman nickte. Corona, sagte er, setze auf die geschwächte Widerstandskraft des menschlichen Organismus, kein Wunder, sagte er, unter den Bedingungen einer nicht minder angegriffenen Natur.

Also mehr als eine herkömmliche Seuche, sagte Anne.

Und wer sollte sich um den Menschen sorgen, fragte Farb, wer sich kümmern, wer ihn schützen, der Mensch habe seine Götter aussortiert.

Anne schenkte Tee nach, Tilman seufzte, Farb griff zu einem Marmorkeks, sie verloren sich an ihre Gedanken.

Die Industriegesellschaft, präzisierte Farb, die Industriegesellschaft habe sie abgeschafft.

Und habe sie ersetzt durch einen unerschütterlichen Glauben an Wohlstand aufgrund technologischer Innovationen, sagte Anne, an Fortschritt bis in alle Ewigkeit.

Ein goldenes Kalb, spottete Farb.

Doch sei nicht auch diese religiöse Variante längst wieder überholt und hinfällig, wandte Tilman ein.

Schlagzeilen, ausnahmslos fette Schlagzeilen, sagte Farb und lachte, eine jage die andere, die Geschwindigkeit steigere sich rasant, die zehntausend Dinge würden konturlos, und letztlich breite sich ein Durcheinander aus, auf nichts sei Verlaß, und niemand wisse Bescheid.

Anne lächelte.

Tilman räusperte sich, er hätte das Gespräch gern fortgeführt, doch das Thema schien erschöpft.

Farb rückte aus dem Schatten, den der Rhododendron warf, und genoß das Sonnenlicht.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schlüsselverse

Nächster Artikel

Leben nach einer Partitur

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Arm und reich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Arm und reich

Nach wie vor tobt der Klassenkampf der Krösusse gegen die Mittellosen.

Warren Buffet.

Unter der Oberfläche und nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar, doch desto erbarmungsloser, Hunger ist eine hochwirksame Waffe, die Opfer gehen in die Millionen.

Das kümmert unsere Krösusse nicht.

Es kommt ihnen entgegen, und seit neuestem, las ich vor einigen Tagen, errichten sie ihre eigenen exklusiven Städte.

Beacon to the world

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Beacon to the world

Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

Er will etwas nicht wahrhaben?

Er neigt dazu, manche Dinge nicht wahrzuhaben, Ausguck, zum Beispiel nimmt er nur in Ansätzen wahr, daß der Planet leidet, die Lebensgrundlagen gehen verloren, er verzeichnet die Symptome, er schweigt sich aus über Ursachen.

Er tut, was er kann.

Karttinger 1

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 1

Karttinger, wieso Karttinger, was sei mit Karttinger, habe er nicht seine Familie in der Vendée besuchen wollen.

Davon sei die Rede gewesen, ja, doch bei ihm wisse man nie, sagte Tilman und lachte, und was kümmere den Farb plötzlich der Karttinger, woher kenne er den, das sei doch eine andere Erzählung.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf seine Pflaumenschnitte, warf flüchtig einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen und verteilte die Sahne sorgfältig über sein Stück Kuchen.

Annika schenkte Tee ein, Yin Zhen.

Ob sie nicht ein Haus in der Nähe von Coulon besäßen, fragte Farb, inmitten des Marais Poitevin, einer der schönsten Regionen des Landes, vergleichbar mit unserem Spreewald.

Vorgeblättert

Kurzprosa | Literaturkalender 2024

Wer möchte nicht gern in die Zukunft blicken? All die kommenden Freuden, Überraschungen, Begebenheiten voraussehen? Zu den Geschenken, die man sich selbst oder anderen bereiten kann, zählt immer ein Kalender für das kommende Jahr. Geschmückt mit literarischen Zitaten und anregenden Texten liegt des Leseglück schon jetzt in unserer Hand. INGEBORG JAISER stellt einige bemerkenswerte Literaturkalender vor.

Der Nachbar »erklärt« uns den Krieg

Kurzprosa | Éric Vuillard: Ballade vom Abendland Ist es nicht vielleicht symptomatisch für ein verändertes Geschichtsverständnis, dass wir neuerdings unseren »Nachbarn« die Lehrerrolle zukommen lassen, wenn es heißt, über das letzte Jahrhundert und insbesondere die beiden Weltkriege nachzudenken? So regte der Brite Christopher Clark mit seinen Schlafwandlern eine Diskussion über die Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg an. Es durfte uns – oder besser den Berliner Abgeordneten im Bundestag – der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklären, was die Geschichte der beiden Nachbarvölker unterscheidet. Und nun erzählt uns auch noch der französische Autor Éric Vuillard