/

Gestörte Entsorgung

Krimi | Wolf Haas: Müll

Wie der Simon Brenner zu Beginn seines neunten Abenteuers unter die Mistler geraten ist, verschweigt Wolf Haas dem Leser. Der ist allerdings schon dankbar, dass es den Brenner überhaupt noch gibt. Denn geschlagene acht Jahre hat er nichts von sich hören lassen. Und auch sein Erfinder (Jahrgang 1960) hat nur auf der Hälfte dieser Zeitspanne, also 2018, mit dem schmalen, autobiographisch inspirierten Roman Junger Mann darauf aufmerksam gemacht, dass es ihn (als Autor) noch gibt. Doch nun: dank des Zusammenspiels von Pandemie und Platzangst im Homeoffice ein neuer Brenner. Und Mistler oder nicht Mistler: Auf den Inhalt kommt es beim Haas eigentlich sowieso kaum an. Anders als beim Brenner, denn: »Für den Brenner das Inhaltliche eigentlich im Vordergrund.« Von DIETMAR JACOBSEN

Mistler nennt man in Österreich die Müllmänner. Und unter denen ist Wolf Haas‘ Ex-Polizeiinspektor, Ex-Detektiv, Ex- Rettungssanitäter und Ex-Privatchauffeur Simon Brenner in seinem neunten Abenteuer gelandet. Ganz in Orange, alles, was Abfall ist, seiner finalen Bestimmung zuführend. Entsorgen oder recyceln, das ist hier, auf einem Wiener »Mistplatz«, die Frage. Die sich von selbst beantwortet, wenn in dem ganzen Müll ein menschliches Knie auftaucht.

Dann sucht man natürlich nach dem Rest der Leiche, um der augenblicklich herbeigerufenen Polizei die Arbeit zu erleichtern. Und wird auch sofort fündig, stößt hier auf ein Ärmchen, gräbt da ein Beinchen aus und sammelt dort und dort und dort noch den Rest zusammen. Nur das Herz des Toten – es ist ein Mann, der da fachgerecht zerlegt wurde – findet man nicht. Das taucht später anderenorts und gut gekühlt wieder auf.

Recycling hin, Kreislauf her

Müll heißt der neunte Brenner-Roman des heute in Wien lebenden 61-jährigen Wolf Haas. Der wohl nicht anders kann, als immer und immer wieder und selbst entgegen eigenen Ankündigungen, dass nun aber endgültig Schluss sei, zu dieser wunderbar erfundenen Figur zurückzukehren. Und damit auch zu jenem originellen Erzähler, der, obwohl er schon einmal das Zeitliche segnen musste – in dem Roman Das ewige Leben von 2003 nämlich –, dem Brenner nach wie vor folgt auf Schritt und Tritt und den Lesern in seinem unverwechselbaren Tonfall von dessen Abenteuern Bericht erstattet. Die diesmal zwar nicht mit dem legendären Satz »Jetzt ist schon wieder was passiert.« beginnen, aber nichtsdestotrotz von Wendungen wie »Frage nicht.«, »Und du darfst eines nicht vergessen.« oder »Jetzt pass auf.« nur so strotzen.

Auf alle Fälle geht es stracks ins Reich des Abfalls, wenn das Buch beginnt, also dahin, wo noch Ordnung in unseren ansonsten unordentlichen Zeiten herrscht und jedes Ding, das einer oder eine aussortiert hat, zu seinesgleichen wandert: »Weil ohne die klare Trennung kannst du jedes Recycling vergessen.« Und weil die Welt ohne Wiederverwertung schon längst untergegangen wäre, fällt auch der Tochter des Mannes, dessen nicht ganz vollständige Leiche die Mistler am Romananfang zusammenpuzzeln, nichts anderes ein als die Organmafia, die ja auch auf verbotene Weise aus einer Art Wiederverwertung ihre Profite gewinnt.

Organmafia oder Spontanhandlung aus Ehewut?

Doch ganz so einfach, wie es sich die Tochter des Opfers zunächst zusammenreimt, ist es dann doch nicht. Denn ihr zerlegter Vater war gerade drauf und dran, zu Hause die Segel zu streichen und mit Sack und Pack bei einer Geliebten einzuziehen. Also doch eher eine »Entladung der langfristig aufgestauten Ehewut in einer Spontanhandlung«, sprich: Mord durch die Ehefrau, die passenderweise spurlos verschwunden ist, seit ihr Gatte in Einzelteilen auf dem Mistplatz gefunden wurde?

Dass es eine Weile dauert, ehe der Brenner, der inzwischen als »Bettgeher« unterwegs ist, also als jemand, der die zeitweise Abwesenheit von Wohnungsinhabern dazu nutzt, den temporär Aushäusigen Tisch und Bett warm zu halten, indem er als Mietnomade bei ihnen einzieht, Tätern und Motiven auf die Spur kommt, verzeiht man ihm als Leser gern. Denn ginge es schneller voran mit der Ermittlungsarbeit, würde man den ganzen skurrilen Figuren rund um den Recyclinghof sicher gar nicht begegnen, geschweige denn an den philosophischen Abschweifungen der Zentralfigur seine teilhabende Freude haben. Und das wäre nicht nur schade, sondern würde auch die Intention verfehlen, mit der Wolf Haas seine Romanwelten zusammenbaut.

Kleiner Grenzverkehr zwischen Zustimmung und Widerspruch

Auch wenn es in einem Land wie Österreich nicht leicht ist, gewinnbringend menschliche Organe zu verscherbeln. Weil es nämlich – im Gegensatz zu Deutschland, wo man der Organspende zustimmen muss, was keine zwanzig Prozent der Bevölkerung tun, weshalb Organe immer Mangelware sind – eines Widerspruchs gegen die postmortale Entnahme menschlicher Ersatzteile bedarf. Weshalb auf dieser Seite der Grenze, wie eine Arztgattin gegenüber dem Brenner sich äußert, die menschlichen Ersatzteile quasi auf der Straße liegen: »Im Frühling, wenn die Motorräder ausfahren, wissen sie nicht, wohin mit den Organen.«

Allein der Brenner erkennt natürlich sofort das dazugehörende Problem: »Wenn sie in Österreich einen Deutschen zusammenfahren. Dann hat der Deutsche Pech gehabt, denn er ist in einer Gegend, wo man ihn ausnehmen darf. Auch ohne Zustimmung.« Das ganz große Geschäft lässt sich dann aber machen, wenn man die Einzelteile des Verunfallten wieder dorthin zurückbringt, wo sie einst zu einem lebendigen Ganzen mit Namen und Adresse gehörten.

Lesevergnügen Hilfsausdruck

Auf genauso einen kleinen Grenzverkehr zwischen Zustimmung hier und Widerspruch da läuft es letzten Endes in Wolf Haas‘ Roman hinaus. Und auf eine Schuld- und Reuegeschichte, die mit einem krachenden Showdown ihr Ende findet. Bis es allerdings nach fast dreihundert Seiten wo weit ist, nimmt Wolf Haas seine Leser mit zu einer ganzen Reihe von Nebenschauplätzen. Denn die Abschweifung ist das, was seinem Erzähler nicht auszutreiben ist, das Nicht-bei-der-Sache bleiben, das dazu führt, dass Erzählfäden genauso spontan aufgenommen wie wieder fallengelassen werden und Figuren, noch bevor sie Kontur gewinnen können, sich in Nichts auflösen. Daran mag sich der eine oder andere gern stoßen. Doch um es noch einmal nachdrücklich mit der inzwischen unverwechselbaren Erzählstimme der Brenner-Romane zu sagen: Du darfst eines nicht vergessen. Lesevergnügen Hilfsausdruck.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Wolf Haas: Müll
Hamburg: Hoffmann und Campe 2022
286 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Wolf Haas in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie ein Buch entsteht

Nächster Artikel

Wunschlos glücklich

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Hardcore-Hype in der Kulturhauptstadt

Roman | Krimi | Massimo Carlotto: Die Marseille Connection Am Ende des Actionkinos French Connection (1975) fährt der Drogenboss Alain Charnier auf seiner Jacht die schier endlose Ausfahrt des alten Hafens von Marseille entlang, während ihn der New Yorker Cop Jimmy »Popeye« Doyle alias Gene Hackman an der Kaimauer nachjagt. Dieser Dreh bezieht minutenlang die einmalige Stadtkulisse Marseilles um den Vieux Port mit ein. Eine cineastische Glanzleistung. Ganz im Gegensatz dazu vermeidet der italienische Erfolgsautor Massimo Carlotto in seinem neuesten Krimi Die Marseille Connection jegliche Anspielung auf das Lokalkolorit der europäischen Kulturhauptstadt von 2013. Über die Gründe kann HUBERT HOLZMANN

»Death sells« – Der Tod als Marketinginstrument

Roman | Musik | Hollow Skai: Samuel Hieronymus Hellborn – Memoiren eines Rockstar-Mörders Bei David Bowie oder Lemmy Kilmister hatte er seine Finger nicht im Spiel. Das kann aber purer Zufall sein: als die starben, war er selbst schon tot. Bei praktisch allen anderen Big Names aus der Branche »populäre Musik« dagegen hat sich Samuel Hieronymus Hellborn zum Herrn über (Markt/Nach-)Leben & Tod aufgespielt. Wie und warum, das hat Hollow Skai soeben veröffentlicht: in den ›Memoiren eines Rockstar-Mörders‹, nach Diktat von Hellborn persönlich. Von PIEKE BIERMANN

Femme fatale, männerverschlingend

Film | Im TV: Tatort – Am Ende des Flurs (BR), 4. Mai Schön, man kann sagen, da zieht ein Täter von Anfang bis Ende sein Ding durch, konsequent, in aller Unschuld, einverstanden, kein Einwand. Wie so oft beginnt das Geschehen vergleichsweise unauffällig. Lisa Brenner, die bis vor anderthalb Jahren ein Verhältnis mit Franz Leitmayr hatte – man weiß davon noch nicht, der Herr Kommissar mag nicht mit der Sprache herausrücken, das wird ihm noch leidtun –, nun stürzt sie aus dem zwölften Stock. Wie sich bald herausstellt, trank sie den Champagner nicht alleine. Von WOLF SENFF

Reiko Himekawas zweiter Fall

Roman | Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht Mit Blutroter Tod hat der S. Fischer Verlag vor Jahresfrist damit begonnen, die in Japan äußerst erfolgreiche Thrillerreihe um Tokios jüngste Polizistin Reiko Himekawa auch deutschen Lesern zugänglich zu machen. Die ersten Reaktionen der Kritik lasen sich verheißungsvoll. Nun liegt mit Stahlblaue Nacht – Der deutsche Titel des nicht aus dem Japanischen, sondern aus dem Englischen übersetzten Romans ist schlichtweg scheußlich! – Band 2 der Serie vor. Er steht seinem Vorgänger weder an Spannung noch an der raffinierten Konstruktion des Erzählten nach. Von DIETMAR JACOBSEN

Großvater Kostas ermittelt

Roman | Petros Markaris: Zeiten der Heuchelei

Helle Aufregung in der ganzen Familie von Kostas Charitos und bei all ihren Freunden: Ein Enkel ist da. Am liebsten würde sich Petros Markaris' Athener Mordermittler ab sofort nur noch mit dem familiären Nachwuchs beschäftigen. Doch gerade jetzt wird ein bekannter Unternehmer durch ein Bombenattentat getötet. Also hat der zwölfte Fall für Charitos und sein Team zunächst einmal Vorrang. Zumal noch mehr Menschen sterben müssen, bevor man den Tätern, die ihre mit »Das Heer der Nationalen Idioten« unterzeichneten Bekennerschreiben mit Federkiel und Tusche in Schönschrift verfassen, auf die Spur kommt. Von DIETMAR JACOBSEN