//

Ferne II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne II

Weshalb sprechen wir ihnen ab, daß sie das Leben genießen?

Sie genießen nicht, Bildoon, es täuscht, die Moderne ist ein Zeitalter im Irrtum.

Absurd, widersprach der Rotschopf, wie soll sie im Irrtum sei, sie handelt nicht anders als wir, unsere 49er beuten die Goldminen aus und feiern ihren Reichtum, was soll daran falsch sein, gut, sie trinken und schlagen über die Stränge, aber wir tun das doch auch.

Nicht auf Scammons Walfänger, sagte Eldin und legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Es gibt rote Linien, bekräftigte LaBelle.

Sanctus nickte.

Sie hörten den Ausguck angestrengt atmen, dann schälte er sich aus der Dunkelheit.

Was hat er nur andauernd mit seinem Salto, überlegte Crockeye gereizt.

Geht in die Spelunken am Hafen und seht zu, wie die Menschen feiern, riet der Zwilling, das wird ihnen niemand austreiben, und ob nicht die Moderne sogar eigene unangenehme Erfahrungen damit habe, den Alkohol zu verbieten.

Das war die Prohibition, ja, sagte Gramner, während der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die Zeit von Meyer-Lansky und Al Capone, und die Droge Alkohol sei Teil des Problems, keine Frage.

Moralapostel, tadelte der Rotschopf.

Gramner legte die Stirn in Falten.

Die Flammen schlugen hoch.

Der Ausguck starrte ins Feuer.

Streit lag in der Luft.

Eldin lächelte, seine Schulter hatte sich während der vergangenen Tage gut erholt, und wenngleich die Stimmung noch angespannt war, gab es keinen Grund, schwarz zu sehen, sie würden in den nächsten Tagen die Jagd auf den Grauwal wieder aufnehmen.

Ja gewiß, erklärte Gramner, irgendwann müsse der Irrweg eingesetzt haben, weshalb nicht bei den Goldgräbern und ihrer grenzenlosen Gier, ihrer elenden Sauferei, ihrem verdammten Glücksspiel, welches im übrigen, unterbrach Pirelli, in der Moderne verhängnisvolle Schäden anrichte, und, Gramner ergriff wieder das Wort, die erwähnte Prohibition sei zwar das Ergebnis einer breit verankerten Bewegung gewesen, sei jedoch im Alltag weitgehend ignoriert und von der Cosa Nostra ausgenutzt worden, doch das seien Einzelfälle gewesen, entscheidend sei, wann der Leistungszwang eingesetzt habe, er habe Wettbewerb und Konkurrenz etabliert und sich zu einem erstickenden Netz ausgeweitet, mit einer Dynamik, die sich beschleunigt habe und etwaige andere Abläufe nicht habe aufkommen lassen.

Symptome totalitärer Herrschaft, kommentierte Pirelli, unverwechselbar.

Der Kippunkt, sagte Gramner, der die verhängnisvolle Eigendynamik ausgelöst habe, habe eingesetzt, indem plötzlich Hochleistungen propagiert, globale Lieferketten eingerichtet und Hierarchien verschlankt worden seien.

Wir reden über den Neoliberalismus seit dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, erklärte Pirelli.

Der Mensch müsse sich neu erfinden, sagte Gramner, er leide unter Krankheiten, die ihm Industrialisierung und der Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte hinterließen.

Krankheiten, wiederholte LaBelle und lachte verächtlich, das beispiellose Elend werde schöngeredet.

Nebenwirkungen, spottete Thimbleman.

Begleiterscheinungen, höhnte Bildoon.

Der Mensch sei ausgebrannt, sagte Gramner, der Planet sei heruntergewirtschaftet, die Moderne trudele in den Bankrott, da seien Zweifel angebracht, daß etwas neu erfunden werde.

Der Planet, konstatierte Thimbleman nüchtern, der Planet sei es, der sich neu erfinden werde.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Maritimes Kaleidoskop

Nächster Artikel

Fragen und Orientierung

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Auf Fang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auf Fang

Nach den Tagen der Ohnmacht waren die Männer begierig darauf, dem Teufelsfisch nachzusetzen. Eldin ging noch behutsam mit der Schulter um. Die letzten Tage hatte er den linken Arm in einer Schlinge getragen, sein Wurfarm war zum Glück unbehelligt.

Die Wunden der anderen waren ausgeheilt. Scammon war ein geduldiger Commandeur, Zeit spielte keine Rolle, er hatte niemanden gedrängt.

Der Teufelsfisch sei tagelang provozierend unverfroren in der Lagune aufgetaucht, sagte Crockeye zornig.

Er zeige seine Fluke aber wie einen freundlichen Gruß, entgegnete Pirelli, wie eine Geste unter Nachbarn, als fühle er sich zu Hause.

Reise ins Innere

Kurzprosa | Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater

Die Literatur war für Thomas Hürlimann immer auch ein Spiegel, durch den er auf seine eigene Vita und die bewegte Familiengeschichte schaute. Sein 1994 gestorbener Vater Hans war als Bundespräsident und Innenminister ein profilierter Schweizer Spitzenpolitiker. Um frei schreiben zu können, hatte Hürlimann, der im Dezember seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, sogar zwischenzeitlich die Schweiz verlassen und war nach Berlin übergesiedelt. PETER MOHR nimmt uns auf Hürlimanns Abendspaziergang mit dem Kater mit.

Eine gemischte Biografie

Menschen | Monika Maron zum 75. Geburtstag Zum 75. Geburtstag von Monika Maron (am 3. Juni) erscheint der Band Krähengekrächz. PETER MOHR gratuliert der Schriftstellerin.

ChatGPT

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: ChatGPT

Lästig, überaus lästig, die ewig gleichen Versuche, den Mühen der Ebene auszuweichen.

Farb lachte. Das Ei des Kolumbus, sagte er, ein Gordischer Knoten.

Tilman tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Farb stand auf, um Schlagsahne aus der Küche zu holen.

Annika klappte ihr Buch zu und legte es beiseite.

Sie lächelte. ChatGPT sei eine mit Mitteln von high-tech verfeinerte Methode, Plagiate zu erstellen, spottete sie, ein Abschreiben, das es unmöglich mache, auch nur einen der ursprünglichen Autoren zu identifizieren.

So könne man das sehen, sagte Farb, es sei ein zutiefst konservativer Standpunkt, aber deshalb nicht falsch.

Vorgeblättert

Kurzprosa | Literaturkalender 2024

Wer möchte nicht gern in die Zukunft blicken? All die kommenden Freuden, Überraschungen, Begebenheiten voraussehen? Zu den Geschenken, die man sich selbst oder anderen bereiten kann, zählt immer ein Kalender für das kommende Jahr. Geschmückt mit literarischen Zitaten und anregenden Texten liegt des Leseglück schon jetzt in unserer Hand. INGEBORG JAISER stellt einige bemerkenswerte Literaturkalender vor.