//

Eskalation

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eskalation

Sie rüsten auf, Farb.

Erinnerst du dich daran, wie es anfing?

Gab es das denn je, Farb: einen Anfang?

Es gibt immer eine rote Linie, die überschritten wird.

Rote Linien erkennt oft nur, wer zurückblickt.

Vielleicht daß man den elektrischen Strom zu nutzen begann.

Früher noch, Farb.

Daß es gelang, das Feuer zu zähmen?

Du siehst, es gibt keinen Anfang, nirgends einen Anfang, so sehr du auch suchst.

Alles eingebildet?

Herbeigeredet, phantasiert, ausnahmslos, der Mensch ist nicht Herr des Geschehens, das war er nie, Farb, er verkennt die Lage, er setzt nicht die Regeln, er weiß von nichts.

Stattdessen ein schleichender Prozeß? Wie stellt man sich das vor? Heimlich, in aller Stille? Farb mußte lachen. Der Mensch wird hinterrücks eingeseift und ahnt davon nichts? Eine Prüfung, wie weit er sich in die Pampa führen läßt? Wer könne das glauben? Irgendjemand führe doch Regie, irgendjemand ziehe die Strippen.

Tilman rückte ein Stück näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Anne lächelte und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb konnte den Blick nicht vom Teeservice lösen, die zierlichen Drachen waren einzig.

Die Menschheit ist ohne Ziel, Farb, die industrielle Zivilisation spielt zum Marsch auf, sie ist ein einziger beharrlicher Prozeß des Aufrüstens, untergründig, der Mensch ist Objekt, ist Spielball.

Er ist Nutznießer.

So kann man es nennen, für ihn fallen Vorteile ab.

Bequemlichkeiten.

Auch das, Farb, auch das, es hat so scheinbar harmlos eingesetzt, die Zivilisation schleicht sich ein, wir erwähnten das Feuer, eine elementare Etappe schon der Aufrüstung, du verstehst, ein bedeutender Fortschritt, und die Begierde ist maßlos, Prometheus wird als Großmeister der Demagogie inszeniert.

Er opferte sich auf, spottete Farb.

Die industrielle Zivilisation ist unersättlich, sie lenkt und gibt die Richtung an, sie gaukelt Bedürfnisse vor, sie erfindet Fotografie und Film als parallele Welten, gestaltet imaginäre digitale Räume, morbide Fluchtwelten, sie lockt mit Entspannnung und Unterhaltung, sich der ihr eigenen Kälte zu entziehen und der Leere, der Monotonie zu entgehen.

Eine Zivilisation des Untergangs, konstatierte Farb.

Und sieh dir an, wie vielseitig sie auftritt, eine Megamaschine, sie dominiert alle Bereiche, sieh allein die mörderische Vielfalt ihrer Waffen, die ihr ausreichen würden, die Menschheit vom Planeten abzuziehen, ein für allemal weg damit, Gier ohne Ende, und längst greift sie über auf die Substanz des Planeten, Überflutungen, Erdbeben, lodernde Flammenwände, Verschmutzung etc., der Mensch ist ihr willfähriger Lakai, ausführendes Objekt.

Es gibt Widerstand.

Gewiß, es gibt Widerstand, verzweifelten, ohnmächtigen Widerstand, machtlos gegen die Verheißungen und Glücksversprechen jeweils immer      neuester Technologien.

Ein Elend.

Der Alltag wird mit guter Laune verkleistert, überall weiß blitzende Zahnreihen, überall breitestes Lachen, eine weit gefächerte Charmeoffensive, wir kennen keine Gnade, null, bei uns wird erbarmungslos aufgerüstet.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Tipps für Trips

Nächster Artikel

Das Abenteuer der Malerei

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Verstehen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verstehen

Ob Phantasie der Intelligenz zuzurechnen sei, fragte Farb.

Tilman tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Wie er darauf komme, fragte sie, legte ihr Reisemagazin beiseite, griff zur Teekanne und schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wie üblich das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, sie besaßen es auch lindgrün, Tilman hatte es, wie er sagte, aus Beijing mitgebracht, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war.

Da sei man sich nicht einig, sagte Tilman.

Man wisse das nicht, sagte Farb.

Landschaft

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Landschaft

Landschaft, jedermann hat seine inneren Landschaften, so einfach, die Dinge sind leicht zu verstehen: er ist abgründig, ein Fels in der Brandung, stürmisch, wolkenverhangen, ist eine Sandwüste, eine stille Lagune, eine aufblühende Wiese, ein reißender Gebirgsbach, du verstehst, jedermann hat seine inneren Landschaften, er könne sie pflegen, doch sie können sich ändern, indem unversehens ein Gewitter heraufzieht, oder sie wechseln zu einer anderen Szenerie.

Revolution

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Revolution

Sie nennen es Digitalisierung, sagte Gramner, und das sei ihre neueste technologische Revolution.

Sensationell, murmelte Mahorner abfällig.

Die Revolutionen der sogenannten Moderne ereigneten sich in immer kürzeren Abständen, höhnte Pirelli.

So werde die Zukunft sein, sagte Rostock und lachte brüllend. Er setzte die Flasche an und trank einen Schluck. Ach was, was zum Teufel sorgten sie sich um eine Zukunft, die in weiter Ferne liege.

Erzählen im freien Fall

Kurzprosa | Alice Munro: Himmel und Hölle Die kanadische Nobelpreisträgerin Alice Munro schreibt ganz gewiss keine Frauenliteratur, ihre Kurzgeschichten enttarnen, variieren das Spiel zwischenmenschlicher Beziehungen, überzeugen durch ihre Virtuosität. HUBERT HOLZMANN hat den neu aufgelegten Band mit neun Kurzgeschichten Himmel und Hölle mit Bewunderung gelesen.