Stimmen aus dem Jenseits

Roman | Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse

»Bosmans hatte sich erinnert, dass ein Wort, Chevreuse, in der Unterhaltung immer wieder kehrte.« Mit diesem Satz eröffnet Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano seinen neuen schmalen Roman. Jean Bosmans ist ein Alter Ego des 77-jährigen französischen Autors. Ein Schriftsteller, der die siebzig überschritten hat und sich an seine Kindheit am südlichen Stadtrand von Paris erinnert – im idyllisch gezeichneten und etwas aus der Zeit gefallenen Chevreuse-Tal. Von PETER MOHR

Hinter dem Haus, das wir bereits aus dem autobiografischen Text »Ein Stammbaum« (dt.: 2007) kennen, gibt es einen großen, terrassenförmig angelegten Garten mit einem verrosteten Metalltor. Befinden wir uns in der Erzählgegenwart oder in Bosmans ferner Kindheit? Der Garten, dieser naturbelassene Ort, scheint eine der wenigen Konstanten in diesem Roman zu sein. Zeitlos und unverrückbar. In einem Haus mit der Nummer 38, so wirbt eine kleine Gemeinde in der Gegend, soll Modiano aufgewachsen sein.

Ansonsten schickt uns der Autor durch eine nicht immer leicht zu dechiffrierende Melange aus Erinnerungen, Andeutungen, Gerüchten und überlieferten Halbwahrheiten. »Es geht in meinen Büchern überhaupt nicht um mein eigenes Leben. Ich benutze nur Empfindungen, die ich gehabt habe, und Stimmungen, in denen ich gelebt habe«, hatte Modiano einmal in einem seiner seltenen Interviews offenbart.

Zwei zwielichtige Männer tummeln sich in den in Bosmans Kindheit angesiedelten Passagen im Umfeld von Haus und Garten. Ist hier die Beute aus einem Verbrechen versteckt worden?

»Guy ist wieder raus aus dem Gefängnis«, hatte er als Kind im Haus in Chevreuse gehört oder glaubt, es gehört zu haben. Drei Männer stellen ihm nach. Tatsächlich oder damals nur in der Fantasie des Kindes?

Die Ungereimtheiten mehren sich. In Bosmans Pariser Wohnung in Auteil treiben obskure Gestalten ihr Unwesen, aus den Telefonleitungen melden sich seltsame Stimmen »oft verschluckt von Geknister, und sie klangen wie Stimmen aus dem Jenseits.«

Als Modiano 2014 etwas überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, hatte die Stockholmer Akademie ihn gerühmt »für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.«

Und wieder geht es bei Modiano ums Erinnern oder darum, was wir dafür halten, um die hohe Kunst des nachträglichen Zusammensetzens von realen Fragmenten und unerfüllten Wünschen, die wir mit der Vergangenheit verbinden. Anspielungsreich, aber mit leichter Hand lässt der Autor Reflexionen und Thrillerelemente einfließen, und Bosmans avanciert auf hochartifizielle Weise zum Vermesser der eigenen Biografie – immer bestrebt, »die Dinge aufzuklären.«

Modiano schickt seine Hauptfigur nach St. Raphael an die Cote d’Azur um einen Roman (»Das Schwarz des Sommers«) zu schreiben und die Dämonen, die ihn verfolgen, damit abzuschütteln. »Seite um Seite zerrann beim Schreiben ein Abschnitt seines Lebens oder wurde vielmehr aufgesaugt wie von einem Blatt Löschpapier.«

Dieser unprätentiöse Stil, seine unaufgeregte, beinahe leise Sprache macht in Verbindung mit dem gedankenschweren Tiefgang die Faszination dieser Prosa aus. »In früheren Zeiten befragte man Schlafwandler wegen ihrer Sehergabe. Er fühlte sich ihnen nicht ganz fremd. Die Hauptsache war, nicht abzurutschen von der Kammlinie und zu wissen, bis an welche Grenze man sein Leben träumen kann«, heißt es über Jean Bosmans.

Das liest sich so leicht und unspektakulär, aber zwischen den Zeilen treten Berge von Mysteriösitäten ans Licht. Patrick Modiano, der besessene Archäologe seines eigenen Lebens, jongliert wieder meisterlich mit Erinnerungen und Anspielungen und lässt den Leser in einer aufgewühlten Stimmung zurück: ratlos und irritiert, aber auf höchstem Niveau unterhalten. »Jene Personen, die dich als Zeugen brauchen, haben nicht die gleichen Gründe wie du für die Suche nach der verlorenen Zeit«.

| PETER MOHR

Titelangaben
Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
München: Hanser 2022
157 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Patrick Modiano in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ungeahnte Fähigkeiten

Nächster Artikel

Ein Umzug als Chance

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wer ist Frank Pike?

Roman | Peter Mann: Der Ire

Eigentlich hat ihn der deutsche Abwehr-Mann Adrian de Groot – von Hause aus Philologe, Literaturkenner und Übersetzer – 1940 aus einem spanischen Gefängnis nach Berlin geholt, damit er eine wichtige Rolle bei der geplanten deutschen Invasion Großbritanniens spielen kann. Denn Proinnsias Pike war gut vernetzt in der irischen IRA-Szene, bevor er sich den Internationalen Brigaden in Spanien anschloss und dort in Gefangenschaft geriet. Nun könnte er den Nazis von Nutzen sein, die sich auf der Suche nach Verbündeten auf der Insel befinden und dazu auf die jahrhundertealte Abneigung der Iren gegenüber den Engländern aufzubauen gedenken. Der Plan ist gut überlegt – aber haben sich die Deutschen tatsächlich den Richtigen für seine Umsetzung ausgesucht? Von DIETMAR JACOBSEN

Beton, Biker und ein Psychopath

Roman | Scott Thornley: Der gute Cop
Detective Superintendent Iain MacNeice genießt den Ruf, der beste Cop der Mordkommission von Dundurn zu sein. Der Witwer und passionierte Grappa-Trinker ist einfühlsam, unkonventionell in der Wahl seiner Methoden und immer ein kleines Stückchen schneller als seine Mitarbeiter, wenn es gilt, Schlüsse zu ziehen. Als zwei rivalisierende Biker-Gangs einen blutigen Krieg anfangen, sechs Leichen aus dem Hafenbecken der fiktiven, am Ontariosee gelegenen kanadischen Stadt geborgen werden und obendrein ein perverser Frauenmörder damit beginnt, die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken zu versetzen, ist das aber auch für MacNeice fast zu viel. Doch zum Glück muss er ja nicht allein gegen das Verbrechen antreten. Von DIETMAR JACOBSEN

Eine Geschichte des Leidens, Sterbens und Überlebens

Roman | Ronya Othmann: Vierundsiebzig

Wer kennt schon die Jesiden? Kaum jemand. In ihrem ebenso einzig- wie großartigen Roman ›Vierundsiebzig‹ erzählt Ronya Othmann jetzt von der Geschichte dieses Volkes, das zugleich eine eigene Religionsgemeinschaft ist; davon, wie die Angehörigen dieses Volkes (in ihrer Selbstbezeichnung Êzîden) in der Diaspora leben müssen. Der Roman erzählt vom »Ferman«, wie die Jesiden die an ihnen begangenen Pogrome bezeichnen. 73 Fermane hatte es bis 2014 bereits gegeben. Dann kam Nummer 74. Fanatiker des »Islamischen Staats« (IS) überfielen am 3. August das jesidische Dorf Kotscho im nordirakischen Sindschar-Gebiet. Die Vereinten Nationen stuften das Massenverbrechen als Genozid ein. Im Januar 2023 tat das auch der Deutsche Bundestag. Doch nicht nur darum sind Ronya Othmanns großem Roman zahlreiche Leser zu wünschen – sondern auch, weil für die Autorin der Ferman weit mehr ist als ein politisch-historisches Verbrechen. Denn Ronya Othmann stammt selbst aus einer jesidischen Familie. Von DIETER KALTWASSER

Leute, chillt ma, echt jetzt!

Roman | Adriana Altaras: Doitscha Was tun, wenn der halbwüchsige Sohn Partisan oder Zionist oder am besten beides werden will? Wenn er sich gleichermaßen befähigt fühlt, die Palästinafrage und die Eurozonenkrise zu lösen? Adriana Altaras beschreibt in ihrem neuen Roman Doitscha eine deutsch-jüdische Familienaufstellung nebst turbulenten Pubertätskämpfen. Von INGEBORG JAISER

Weiße Nächte, weite Blicke

Roman | Alexander Osang: Fast hell

Das Spektakel ist beeindruckend. Fast hell, in pastellfarbenem Dämmerlicht, erscheinen die Julinächte in Sankt Petersburg. Vielleicht lässt sich gerade unter diesem Himmel das Unsagbare, Flimmernde, Schwebende erzählen, wenn die Grenzen zwischen Realität und Erfindung verschwimmen? Der Journalist und Schriftsteller Alexander Osang begibt sich auf Spurensuche und Zeitreise zwischen Ost und West. Von INGEBORG JAISER