Karl Marx in Rabat

Roman | Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen

Schaut, wie wir tanzen führt als zweiter Band Leïla Slimanis große Familientrilogie weiter, in ein Marokko nach der Unabhängigkeit, in eine Ära des Wandels und der Neuorientierung. Aus wechselnden Standpunkten und Erzählperspektiven lernen wir aufbegehrende Frauen, unkonventionelle Beziehungen und eine trügerische Aufbruchsstimmung kennen. Von INGEBORG JAISER

Ein Foto mit tanzenden PaarenAls »literarischer Weltstar« wird die marokkanisch-französische Schriftstellerin Leïla Slimani bejubelt, die 2016 mit dem angesehenen Prix Goncourt für ihren psychologischen Thriller Chanson douce ausgezeichnet wurde. Bereits der erste Teil ihres derzeitigen Projektes, einer groß angekündigten, autobiographisch grundierten Familiensaga – in Frankreich wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste – hat auch in Deutschland für Aufsehen gesorgt und die Spannung auf weitere Folgen geschürt.

Haben wir in die Die Welt der Anderen (2021) noch ein Marokko während der französischen Protektoratsverwaltung erlebt, eine unkonventionelle, überall aneckende Ehe zwischen der Elsässerin Mathilde und dem Araber Amine Belhaj, springen wir im zweiten Band Schaut, wie wir tanzen eine Generation und eine oder zwei zeitgeschichtliche Dekaden weiter: in die Ära nach der Unabhängigkeit Marokkos, Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre.

Zwischen Meknès und Straßburg

Dank Slimanis Einfühlungsvermögen und Darstellungskraft bedarf es nur wenige Seiten der Lektüre, um erneut in die Szenerie einzutauchen. Auf einer dem kargen Boden und allen Widrigkeiten abgetrotzten, aufstrebenden Farm nahe Meknès sind der gesettelte und strenge Patriarch Amine und seine sich aus allen Zwängen herauswindende Ehefrau Mathilde zu einer festen Größe geworden.

Längst haben sich ihre Kinder Selim und Aïcha zu jungen, wenngleich sehr unterschiedlichen Erwachsenen entwickelt. Während sich der geistig phlegmatische, aber von einem ungewöhnlichen Bewegungsdrang getriebene Selim, den die einheimischen Arbeiter scherzhaft »Knirps« und »mageres Hühnchen« nennen, nur allzu gern von seiner lasziven Schwägerin Selma verführen lässt und in eine Hippie-Kommune abdriftet, zieht es die strebsame, ehrgeizige Aïcha zum Medizinstudium nach Straßburg.

Tanz, Drinks, Freizügigkeit

Mit großer Ernsthaftigkeit verschreibt sie sich allein dem Lernen, »verklemmt, ängstlich, zu unterwürfig gegenüber der Autorität« und blind für das restliche Leben, die Studentenunruhen, die revolutionären Bewegungen. Als sie gefragt wird, ob Simone de Beauvoir in Marokko bekannt sei, kann sie nur entgeistert mit den Schultern zucken. Für die französischen Mitstudenten ist sie bestenfalls »eine Frau aus der Dritten Welt, eine Bauerntochter, eine Nordafrikanerin mit krausem Haar und olivfarbener Haut, die es geschafft hat, ihren Verhältnissen zu entrinnen«. Als Aïcha nach vier Jahren zum ersten Mal in den Semesterferien nach Hause kommt, ist Amine erzürnt über ihren kurzen Rock und die geglätteten Haare, während sich Mathilde eher um die zarte Konstitution ihrer Tochter sorgt.

Wie eine Befreiung aus den Klauen der Familie wirkt da die Einladung der Schulfreundin Monette in ein Sommerhaus am Strand von Rabat, in eine freizügige Welt mit Tanz, Drinks und neuen Bekanntschaften. Dazu zählt auch Mehdi Daoud, genannt Karl Marx, ein aufstrebender, engagierter, zugleich charismatischer Ökonomiedozent. »Um Mehdi zu begreifen, musste man ihn tanzen sehen. Da war etwas in seinen Gesten, seinen Bewegungen, eine seltsame Mischung aus Beherrschung und Lässigkeit.« Aïcha kann den Blick nicht mehr abwenden. Doch ihr Weg als Paar ist von Hindernissen gesäumt.

Parallele Dimensionen

Aus kreiselnden, wechselnden Perspektiven zeichnet diese vielschichtige Familiensaga zugleich ein gesellschaftliches und politisches Panorama eines Landes im Umbruch. Es ist kein Geheimnis, dass Leïla Slimani dem zweiten Band ihrer Trilogie die Geschichte ihrer eigenen Eltern zugrunde gelegt hat, bis hin zu einem Cover-Foto aus dem Privatarchiv. In beinahe cineastischer Anmutung werden Szenen des Alltagslebens heraufbeschworen, Momente des Glücks, der Gewalt, der Gewissheit. Selbst politische Ereignisse wie der Putschversuch von Skhirat verschmelzen mit individuellen Sichtweisen zum Amalgam einer persönlichen Geschichte.

Welch aufreibender, selbstvergessener Akt des Schreibens und der Konzentration diesem Roman zugrunde liegt, wird der Leser am ehesten nach der Lektüre des essayistischen Memoirs Der Duft der Blumen bei Nacht (2022) erahnen. Wie zusätzliche Erläuterungen wirkt dieses Buch, dessen Veröffentlichung klug zwischen den ersten und zweiten Band der Familie-Trilogie eingeschoben wurde. Und über allem schwebt ein grundlegendes Gefühl, dem Leïla Slimani eine starke Stimme zu geben vermag: die Zerrissenheit zwischen zwei Welten, die sich in parallelen Dimensionen abspielen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
München: Luchterhand 2022
379 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Leïla Slimani in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eichelhäherische Lektion

Nächster Artikel

Warten auf das Ende – Buchmesse-Schwerpunkt Spanien

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Reiko Himekawas zweiter Fall

Roman | Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht Mit Blutroter Tod hat der S. Fischer Verlag vor Jahresfrist damit begonnen, die in Japan äußerst erfolgreiche Thrillerreihe um Tokios jüngste Polizistin Reiko Himekawa auch deutschen Lesern zugänglich zu machen. Die ersten Reaktionen der Kritik lasen sich verheißungsvoll. Nun liegt mit Stahlblaue Nacht – Der deutsche Titel des nicht aus dem Japanischen, sondern aus dem Englischen übersetzten Romans ist schlichtweg scheußlich! – Band 2 der Serie vor. Er steht seinem Vorgänger weder an Spannung noch an der raffinierten Konstruktion des Erzählten nach. Von DIETMAR JACOBSEN

Auf sein Gefühl vertrauen, kann manchmal tödlich sein

Roman | Candice Fox: 606

Aus dem fiktiven Hochsicherheitsgefängnis Pronghorn in der Wüste Nevadas entfliehen fast sämtliche Insassen, 606 teils schwerkriminelle Häftlinge. Captain Celine Osbourne, die Leiterin des Todestrakts der Anstalt, ist vor allem daran interessiert, einen der Flüchtigen schnell wieder einzufangen: John Kradle, vor fünf Jahren wegen dreifachen Mordes verurteilt. Der freilich will die unverhoffte Gelegenheit dazu nutzen, endlich seine Unschuld zu beweisen und den wahren Mörder seiner Frau, seines Sohnes und seiner Schwägerin zu finden. Allerdings heftet sich gleich als die Gefängnismauern hinter ihm liegen ein gefährlicher Psychopath an seine Fersen. Und auch U.S. Marshal Trinity Parker, nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel, setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um die entwichenen Schwerverbrecher schnellstmöglich wieder hinter Gitter zu bringen. Condice Fox 606 gelesen von DIETMAR JACOBSEN

Tot oder lebendig?

Roman | M. W. Craven: Der Gourmet

Was macht ein berühmter Sternekoch im Gefängnis? Jared Keaton soll die eigene Tochter getötet haben. Doch deren Leiche wurde nie gefunden. Also vielleicht ein Ermittlungsfehler von DS Washington Poe? Doch das Gericht folgte der Argumentation des Polizisten, der Koch wanderte hinter Gitter. Sechs Jahre später taucht auf einem Polizeirevier in Cumbria eine junge Frau auf, die behauptet, Jareds Tochter zu sein, entführt von einem Unbekannten und jahrelang in einem Verlies festgehalten. Als auch noch eine DNA-Analyse die Aussage der Frau bestätigt, muss Poe noch einmal antanzen an seinem alten Dienstort im Nordwesten Englands. Und natürlich unterstützt ihn auch bei diesem verzwickten Fall wieder die brillante, aber im Umgang mit ihresgleichen nicht sonderlich geschickte Fallanalytikerin Tilly Bradshaw. Von DIETMAR JACOBSEN

Blick zurück ohne Zorn

Roman | Klaus Modick: Klack Klaus Modicks Zeitreise durch das Nachkriegsdeutschland. Gelesen von PETER MOHR

Zwei Entführungen und ein Todesfall

Roman | Ross Thomas: Der Mordida-Mann Auch der 18. Band der im Berliner Alexander Verlag seit 2005 neu erscheinenden Ross-Thomas-Ausgabe ist wieder ein kleines Wunderwerk. Das unter dem Titel Der Backschischmann bereits 1982 im Ullstein Verlag auf Deutsch erschienene und nun von Jochen Stremmel neu und erstmals vollständig übersetzte Buch führt seine Leser dorthin, wo der spät zum Schreiben gekommene ehemalige Politikberater, Journalist und Gewerkschaftssprecher Thomas sich am besten auskannte: in die Zirkel der Mächtigen dieser Welt, wo Korruption, Intrigen und Verrat zum Tagesgeschäft gehören. Als nach der Entführung eines Top-Terroristen im Gegenzug der Bruder des amerikanischen Präsidenten gekidnappt wird,