Detektivin in der Welt der Toten

Roman | Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker

Margaret Penny wohnt wieder bei ihrer Mutter. Die 47-Jährige ist in London gescheitert und nach Edinburgh zurückgekehrt. Hier nimmt sie einen Job beim städtischen »Amt für Verlorengegangene« an – man muss ja schließlich Geld verdienen, um zu überleben. Ihr erster Auftrag: die Identität einer einsam Verstorbenen zu klären, von der nur der Nachname, Walker, bekannt ist. Während sich Margaret mühsam in das Labyrinth der Vergangenheit einer Frau, die niemand wirklich gekannt zu haben scheint, hineinarbeitet, hat es der Leser leichter. Ihm wird in einer Parallelgeschichte, die bis in die späten 1920er Jahre zurückreicht, die Geschichte der Walkers erzählt. Und die hat es wirklich in sich. Von DIETMAR JACOBSEN

»Zehn Jahre oder mehr. Wenige Telefonate. Keine Ahnung, wann sie das letzte Mal zu Weihnachten oder Neujahr zu Besuch gewesen war« – Margaret Pennys Bilanz der Beziehung zu ihrer alten, über 70-jährigen Mutter fällt ernüchternd aus. Aber weil eine von ihr geworfene Münze, der sie ihre unmittelbare Zukunft anvertraute, Kopf und nicht Zahl zeigte, taucht sie 2011, im »zweitkältesten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen«, wieder in Edinburgh auf.

London hat sich letzten Endes als Fehlschlag für die kleptomanisch veranlagte ehemalige Büroleiterin in einem Finanzunternehmen erwiesen. Was genau dort geschah, erfährt der Leser nur andeutungsweise. Nur dass ein nach ihrer Ankunft immer wieder auftauchender großer schwarzer Wagen sie aufs Äußerste beunruhigt, deutet darauf hin, dass Margaret zwar mit ihrer Vergangenheit fertig zu sein scheint, die aber wohl noch lange nicht mit ihr.

Ein Job im »Amt für Verlorengegangene«

Vergangenheiten, zu Ende gegangene (Lebens-) Geschichten sind es auch, um die sie sich bei ihrem neuen Job im Edinburgher »Amt für Verlorengegangene« zu kümmern hat. Die Stadt betreibt diese Einrichtung, um für einsam Verstorbene nicht die Beerdigungskosten übernehmen zu müssen. Deshalb versucht man, Licht ins Dunkel des Lebens der Dahingeschiedenen zu bringen, Verwandte ausfindig zu machen, um diese dann in die Pflicht nehmen zu können. Allein bei der alten Mrs. Walker, Margaret Pennys erstem Fall, ist das mehr als schwierig. Denn weder deren Vorname noch ihre Lebensgeschichte sind überliefert. Und als Margaret einen neugierigen Blick auf ihre Klientin im städtischen Leichenschauhaus werfen will, stellt sich heraus, dass auch der Leichnam sich inzwischen davongemacht zu haben scheint.

Also muss die persönliche Bekanntschaft wohl warten, bis Mrs. Walker geruht, wieder aufzutauchen, damit sie ordnungsgemäß unter die Erde gebracht werden kann. Was für die emsige Detektivin heißt: kleinen und kleinsten Spuren wie einem verschwundenen Foto, einem halben Dutzend Mandarinenkernen, einem smaragdgrünen Kleid, Notizzetteln mit ominösen Notaten, einer alten Münze und einer Paranuss, in deren Schale eingraviert sich die zehn Gebote finden, nachzugehen. Kein leichtes Unterfangen bei dem zu erwartenden Hungerlohn.

Winzigen Spuren folgend

Da haben es die Leser von Mary Paulson-Ellis‘ 2016 erschienenem Debütroman dann doch ein wenig leichter. Die inzwischen an ihrem vierten Roman arbeitende, 1968 geborene Edinburgherin, die nach einem Politik- und Soziologiestudium als Drehbuchredakteurin, Kunstkuratorin und Reiseleiterin arbeitete und regelmäßig für BBC Radio Scotland Neues aus dem Kulturbereich im weitesten Sinne bespricht, erzählt nämlich auf einer zweiten, geschickt mit der Gegenwartsstrecke verwobenen Handlungsebene die Geschichte jener Walkers von 1929 bis hinein ins nächste, unser drittes Jahrtausend. Nicht chronologisch, sondern indem sie sich einzelne Jahre herauspickt, in denen sich Entscheidendes in der kleinen Welt der Walkers wie in der großen der die Familie umgebenden Welt tut.

Und schnell hat man beim Lesen begriffen: Es ist keine Erfolgsgeschichte, zu deren Zeugen Paulson-Ellis ihre Leser macht. Denn nach einer kurzen Phase des Glücks – 1929 werden Alfred und Dorothea Walker Zwillinge geboren, deren Existenz den Eltern ein Lächeln ins Gesicht zaubert, während die vierjährige Clementine bereits ahnt, dass die neuen Geschwister ihr ihre bisherige Rolle in der Familie wohl streitig machen werden – geht es, als der Vater in der Weltwirtschaftskrise seine Arbeit verliert, nur noch bergab.

Das erste Zwillingspaar stirbt auf tragische Weise. Die 1935 geborenen Ruby und Barbara vermögen den Platz ihrer Vorgänger im Herzen der Eltern nicht mehr einzunehmen. Zwei Jahre später ist die Bilanz verheerend: »Alles in der Welt verschob sich. Alfreds Verbleib – unbekannt. Dorotheas Zustand – wahnsinnig. Krieg oder Frieden – ungewiss.« Während der Vater verschwindet und die Mutter in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird, in der sie fortan über 40 Jahre weggesperrt bleibt, reißt die raffinierte Haushälterin Mrs. Penny mit Hilfe eines halbseidenen Anwalts Besitz und Kinder der Walkers an sich. Clementine, Ruby und Barbara – Erstere »glanzvoll«, ihre Zwillingsschwester »glanzlos und unbeachtet« – heißen nun mit Nachnamen Penny, sind den pädophilen Annäherungen eines ominösen Bekannten ihrer neuen Mutter ausgesetzt und schrecken bald vor nichts mehr zurück, wenn es darum geht, in einer Welt, die sie sich nicht ausgesucht haben, zu überleben.

Oh my Darling, Clementine

Raffiniert, wie beiläufig Mary Paulson-Ellis das Zeitgeschehen in die Geschichte der Walkers und späteren Pennys einfließen lässt: die Abdankung von König Eduard VIII. im Jahre 1936  und die darauf folgende »Krönung eines Königs, der nie König hatte werden wollen«, die Thronbesteigung Elisabeths II., Krieg und Wiederaufbau nach 1945 – »London, so schien es, erstand wieder auf, alles reingewaschen.« –, der Finanzcrash von 2008 und die Rückkehr zu jenem Wirtschaften, das ihn erst herbeigeführt hatte  – »Margaret konnte das Geld förmlich riechen, das in den Häusern ringsum aufgelaufen war«. Dokumente, die das Leben der unbekannten Toten für Margaret Penny langsam transparent werden lassen, leiten die fünf Teile des Romans jeweils ein. Überschrieben sind die gliedernden Abschnitte mit jenen kleinen Dingen von der Mandarine bis zum Foto des 1933 verstorbenen Zwillingspaars, die die schmale Hinterlassenschaft der Verstorbenen darstellen und im Roman ein dichtes Netz von die einzelnen Figuren miteinander verbindenden Symbolen aufbauen. Am beeindruckendsten aber gelingen Mary Paulson-Ellis ihre – gelegentlich auf amüsante Weise ins Lakonische tendierenden – Personenporträts und Ortsbeschreibungen. Ähnlich präzise und bildhaft bekommt man solches nur selten zu lesen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker
Deutsch von Kathrin Bielfeldt
Hamburg: Argument Verlag 2022
441 Seiten. 18 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Unerfüllte Wünsche

Nächster Artikel

Advents-Suchspaß

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Liebeslügen zwischen Leipzig und Lagos

Roman | Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Wenn der Himmel grau über der Stadt hängt und der Tag wenig Verheißungsvolles verspricht, könnte jede am Handy aufploppende Nachricht die Flucht in eine reizvolle Parallelwelt eröffnen. Martina Hefter spielt in ihrem aktuellen Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? verschiedene Lebens- und Realitätsebenen durch. Von INGEBORG JAISER

Flucht in den Norden

Roman | Jeanine Cummins: American Dirt

Jeanine Cummins' Roman American Dirt hat in den USA eine Menge Staub aufgewirbelt. Und das bereits, bevor er überhaupt erschienen war. Das Migrantendrama um eine mexikanische Mutter und ihren achtjährigen Sohns, die vor den Killern eines Drogenkartells in die USA fliehen, musste sich den von einer breiten Front von Künstlern und Intellektuellen mit lateinamerikanischem Background getragenen Vorwurf gefallen lassen, hier eigne sich jemand künstlerisch das Leid von Menschen an, mit denen er selbst als weiße Amerikanerin nichts zu tun habe. Vermarktungsungeschicklichkeiten taten ein Übriges, um die Stimmung in Medien und Netz anzuheizen. Nun ist das Buch auch auf Deutsch erschienen. Und präsentiert sich als solider Pageturner, der freilich nicht ganz klischeefrei ist und – was die deutsche Übersetzung betrifft – auch sprachlich zu wünschen lässt. Von DIETMAR JACOBSEN

Terroristenjagd ohne Terroristen

Roman | Franz Dobler: Ein Schuss ins Blaue Zum dritten Mal nach Ein Bulle im Zug (2014) und Ein Schlag ins Gesicht (2016) schickt Franz Dobler seinen Ex-Bullen Robert Fallner auf Verbrecherjagd. Diesmal winkt dem in der Sicherheitsfirma seines Bruders Hans Tätigem sogar eine nicht unbeträchtliche Summe, sollte es ihm und seinen Kollegen gelingen, einen islamistischen Extremisten dingfest zu machen, bevor der größeren Schaden anrichten kann. Aber warum verhält sich dieser Iraker so gar nicht wie ein Terrorist, während sich die Atmosphäre um ihn und seine Beobachter herum von Tag zu Tag mehr mit Fremdenfeindlichkeit auflädt? Von DIETMAR JACOBSEN

Eine Reise ins Nichts

Roman | Michel Houellebecq: Vernichten

Diesmal ist es kein islamistischer Terror, der in Michel Houellebecqs neuestem Roman Vernichten heraufbeschworen wird. Das 600 Seiten starke Buch des »Sehers der Moderne« richtet sich – wie zuletzt auch in Serotonin (2019) – nach innen: diesmal auf den Zerfall der Familie (oder besser gesagt, den vielleicht vergeblichen Versuch, diese zu kitten) und auf den Rückzug des Ichs. Dieser Rückzug des Menschen auf das Private, diese Innenschau wird unterstützt durch die neuesten Apparaturen der medizinischen Diagnose. Es kommt also noch mehr zum Vorschein als der Frust über menschliche Beziehungen. Von HUBERT HOLZMANN

Wann ist ein Roman ein Roman?

Roman | Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre Clemens J. Setz legt mit seinem neuesten Buch Die Stunde zwischen Frau und Gitarre – erschienen im Suhrkamp Verlag – einen Text vor, der die Bezeichnung Roman zurecht trägt. Wer sich in den kommenden Tagen aus dem Besinnlichkeitstrubel zwischen Gans und schwiegerelterlichem Smalltalk ausklinken möchte, findet in diesem gewaltigen Band österreichischer Literatur genau den richtigen Ausweg. Das Buch des Jahres 2015 – findet HUBERT HOLZMANN