»Die Welt ist hungrig, und nichts wäre gefährlicher, als Aufmerksamkeit zu erregen«

Jugendbuch | Jutta Nymphius: Total irre

Was ist eigentlich normal? So ganz genau weiß das Karli auch nicht, aber es ist das, was er sich wünscht und in seiner eigenen Familie nicht findet. Von ANDREA WANNER

Jugendliche auf Fotostreifen aus einem PassbildautomatenDie Pubertät ist eine schwierige Phase, die Jugendlichen einiges abverlangt. Und während der 13jährige Karli sein bisher einziges Barthaar, das er Ferdi getauft hat, pflegt, sehnt er sich nach einer unauffälligen Familie. Einer, die man ohne Probleme beim Klassenfest präsentieren kann, ohne von einer Peinlichkeit in die nächste zu geraten.

Aber gerade dazu taugen der im Rollstuhl sitzende Vater, der gern überall gut gelaunt überall mitmischt, die übergewichtige Mutter, die eine nicht funktionierende Erfindung nach der anderen entwickelt, und Onkel Holger, der auf der Suche nach seiner Identität ist und täglich in anderen, schillernd-verrückten Frauenklamotten auftaucht, überhaupt nicht.

Und als er dann noch in der Disco beim Tanzen Jona kennenlernt, von ihr total fasziniert ist und dann feststellen muss, dass sie taub ist, ist seine Geduld endgültig am Ende. Er hat genug von Freaks und wünscht sich sehnlichst, Teil einer Durchschnittsfamilie zu sein, in der alles geregelt und geordnet zugeht.

Dafür hat er zum Glück Robin, seinen Freund seit Krabbelgruppentagen. Robin ist ordentlich und perfekt organisiert und bekommt von zu Hause dafür alle Unterstützung. Traumhaft findet Karli das und beginnt mit Robins Hilfe zu erkennen, dass ein funktionierendes Ordnungssystem das Wichtigste im Leben ist. Aber ist das wirklich der richtige Weg?

Jutta Nymphius erzählt einfühlsam und witzig aus der Perspektive des verzweifelten Jungen. Für das Manuskript erhielt sie im vergangenen Jahr den Hamburger Literaturpreis in der Kategorie »Kinder- und Jugendbuch«. Vielleicht übertreibt sie es an manchen Stellen ein bisschen, wenn Karli zum Hobbypsychologen wird und die Lösung großer Probleme auf den Schultern sehr junger Menschen lastet. Man verzeiht es ihr, denn die Geschichte bietet viele Überraschungen, Momente der Selbsterkenntnis und Einsicht, die wirklich sehr klug und gelungen sind. Menschen versuchen sich anzupassen, abzugrenzen, sie selbst zu sein und anderen zu gefallen und entgegenzukommen. Dazu braucht es Kompromisse und Ehrlichkeit. Und immer wieder die Frage, was eigentlich »normal« ist, wer es entscheidet und ob es wirklich das ist, was das Leben braucht.

Kleine Texte, die wie Notizzettel gestaltet sind, eröffnen die Kapitel mit passenden Zitaten aus dem Tierreich und der Biologie. Inhalte, die Karli zunächst darin bestätigen, dass Unauffälligkeit das oberste Ziel sein muss, will man unbeschadet durchs Leben gehen. Aber auch das muss er überdenken. Gern begleitet man ihn auf seinem Weg.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Jutta Nymphius: Total irre
München: Tulipan 2022
176 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Delfter Kacheln und Knochenzäune

Nächster Artikel

Mein Ich ist stärker als ich

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Wie geht’s dir?

Jugendbuch | Umberto Galimberti und Anna Vivarelli: Das große Buch der Gefühle

Bücher über Gefühle liegen für die Kleinen im Trend. Da wird gezeigt, was Angst, Wut oder Freude bedeuten, wie man mit eigenen Gefühlen umgeht und die von anderen wahr- und ernst nimmt. Und jetzt gibt es so etwas endlich auch für die Großen, freut sich ANDREA WANNER

Alles andere als sicher

Jugendbuch | Patrycja Spychalski: Auf eine wie dich habe ich lange gewartet Liebesgeschichten in Jugendbüchern waren lange Zeit Geschichten von einem Paar, das aus einem Mädchen und einem Jungen besteht. Inzwischen hat sich der Blick etwas erweitert und es gibt auch Geschichten, in denen das Paar aus zwei Mädchen oder zwei Jungen besteht. Was sich nicht geändert hat, ist die Grundüberzeugung, dass junge Menschen genau wissen, ob sie sich zum eigenen oder zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen. Ist das wirklich so sicher? Patrycja Spychalski stellt in ihrem fünften Roman genau diese Frage. Von MAGALI HEISSLER

Eine wahre Heldin

Jugendbuch | Ann Petry: Harriet Tubman

Harriet Tubman wurde um 1820 in Maryland in einer fensterlosen Hütte auf der Brodas-Plantage als Araminta Ross, der Tochter von Harriet Greene und ihrem Ehemann Benjamin Ross geboren. Aus dem kleinen Mädchen wurde die wohl bekannteste Fluchthelferin der Underground Railroad. Eine wahre Geschichte, die nicht in Vergessenheit geraten sollte, findet ANDREA WANNER

An die Wand gefahren

Jugendbuch | Kerstin Lücker/Ute Daenschel: Weltgeschichte für junge Leserinnen Wer im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine Weltgeschichte verfasst, noch dazu in einem einzigen Band, ist entweder ein Genie, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Oder in eben dem Maß ahnungslos. Bei dem vorliegenden Buch war kein Genie am Werk. Von MAGALI HEISSLER

Heftiger Wellenschlag

Jugendbuch | Elisabeth Herrmann: Seefeuer Ein dramatischer Schiffsuntergang, eine verwickelte Familiengeschichte über drei Generationen, moderne Piraten, eine junge Frau am Ende der Pubertät und vor den ersten Anforderungen des Lebens als Erwachsene, gestrandete Robben samt einer süßen Romanze sorgen im dritten Jugendthriller von Elisabeth Herrmann ›Seefeuer‹ für heftigen Wellenschlag und bei den Leserinnen für reichlich Spannung. Von MAGALI HEISSLER