Die Rolling Stones können viele Superlative für sich beanspruchen. Sie sind die älteste Rockgruppe des Planeten – im Jahr 2022 feiert die britische Kultband ihr 60-jähriges Jubiläum. Zweifellos gehören die »Stones« zu den größten, bedeutendsten und erfolgreichsten Rockbands aller Zeiten. Über Jahrzehnte lieferten Mick Jagger, Keith Richards, Ron Wood und der 2021 verstorbene Charlie Watts zahlreiche zeitlose Rock-Klassiker wie »(I Can’t Get No) Satisfaction«, »Jumpin’ Jack Flash«, »Sympathy for the Devil«, »Honky Tonk Women« »Wild Horses« und »Paint It Black« ab. Dass sie immer noch gefragt sind, zeigen jüngere Songs wie »Living in a Ghost Town«, der 2020 Platz 1 der deutschen Charts belegte. Von DIETER KALTWASSER
Das 2016er-Album »Blue & Lonesome« wurde zum großen Erfolg – ebenso wie »A Bigger Bang« gut elf Jahre zuvor. Auch wenn über die Jahre einige andere Musiker in der Band spielten, besteht diese im Kern nach wie vor aus Mick Jagger (geboren 1943), Keith Richards (ebenfalls Jahrgang 1943) und Ronnie Wood (geboren 1947). Fast von Anfang an dabei war Charlie Watts am Schlagzeug, bevor er im Alter von 80 Jahren verstarb. Die rollenden Steine machen weiter, sie lassen sich durch nichts aufhalten. Mick Jagger sagte einmal: »Ich bin gerne auf Tour. Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn ich da nicht rausgehen könnte. Ich würde wahnsinnig werden.«
Die britische Musikjournalistin Lesley-Ann Jones hat eine sehr lesenswerte, neu erschienene Band-Biographie ›The Stone Age – 60 Jahre The Rolling Stones‹ geschrieben, die von Conny Lösch vorzüglich übersetzt wurde. Vor zwei Jahren, zum 40. Todestag des Künstlers, erschien ihre gefeierte Biographie ›John Lennon – Genie und Rebell‹, mit dem sie ganz neue Perspektiven auf Lennons Leben, Lieben und Sterben lieferte. Lesley-Ann Jones erlernte ihr journalistisches Handwerk in der legendären Londoner Fleet Street, wo sie mehr als zwanzig Jahre lang als Zeitungskolumnistin und Feuilletonistin arbeitete. Sie ist die Autorin und Koproduzentin von ›The Last Lennon Interview‹, einem Film über die letzte Begegnung zwischen dem ehemaligen Beatle und dem BBC Radio One-Moderator Andy Peebles am 6. Dezember 1980 in New York – zwei Tage, bevor John Lennon ermordet wurde.
Die Geschichte der Rolling Stones beginnt Ende 1961 auf einem Bahnhof in Dartford, etwa 30 Kilometer südöstlich von London. Dort trifft der 18-jährige Keith Richards einen Schulfreund aus der Grundschule namens Mike Jagger; in einem Gespräch entdecken sie ihre gemeinsame Liebe für amerikanische Musik: Blues und Rock ’n‘ Roll, Muddy Waters und Chuck Berry.
Am 12. Juli 1962 treten die Rolling Stones zum allerersten Mal auf, in London, im Jazzclub Marquee in der Oxford Street. In der Besetzung Mick Jagger (Gesang), Brian Jones (Gitarre), Keith Richards (Gitarre), Dick Taylor (Bass), Ian Stewart (Piano) und – vermutlich – Tony Chapman (Schlagzeug). Für Dick Taylor wurde ab Dezember 1962 Bill Wyman der Bassist der Band, der er bis zu seinem Ausstieg im Jahr 1993 blieb. Im Mai 1962 traten die Beatles zum ersten Mal als Hauptattraktion im Hamburger Star Club auf und spielten dort sieben Wochen lang, während ihnen ihr Manager Brian Epstein ihren Plattenvertrag bei Parlophone/Emi sicherte. Soweit waren die Rolling Stones noch nicht, heißt es bei der Autorin.
Als sie zum allerersten Mal im Jazzclub Marquee auftraten, nannten sie sich noch die »Rollin‘ Stones«. In der Folge wurde ein »g« hinzugefügt und damit ihr Schicksal besiegelt. Fünf weiße Engländer machten sich auf, die Musik des schwarzen Amerikas zu spielen. Sie feilten an einem Stil, der bluesige Untertöne in zuweilen dunklen Andeutungen über Frauen, Sex und Drogen mischte. Als »Verderber der Jugend« und »Boten des Teufels« angeprangert, schufen sie Musikstücke der Popkultur. Gitarrist Keith Richards wird in einem seiner ungezählten Rückblicke auf die Anfangstage wie folgt zitiert: »Das Marquee war ungefähr der größte Club in London zu der Zeit. Und wir hatten vorher quasi nur in schrottigen Garagen gespielt.« Die Musikinstrumente und Verstärker für ihr erstes reguläres Konzert haben sie sich zum Teil ausleihen müssen, doch der Auftritt wird zum Startschuss der Band.
Was damals geschah und wie es weiterging mit ihnen erfahren wir in dieser überaus kenntnis- und erlebnisreichen Band-Biographie von Lesley-Ann Jones. Auf Empfehlung der Beatles wird der neunzehnjährige Andrew Loog Oldham Manager der Stones. »Nachdem sie ursprünglich versuchten, den adretten Stil der Beatles zu kopieren«, so die Autorin, »will Oldham sie nun als bösen, verlotterten Gegenentwurf zu den vier Liverpoolern vermarkten.« Oldham ahnte wohl nicht, was er lostrat, als er die Stones gegen die Beatles aufstellte. Noch »in der Anfangszeit folgten die Stones den Beatles, wohin auch immer sie gingen,« heißt es bei Jones. Lennon und McCartney stellte ihnen den freundlicherweise im November 1963 den von ihnen geschriebenen Song »I Wanna Be Your Man« zur Verfügung. Die Stones sind die erste Band, die in der neuen Chartsendung der BBC, Top of the Pops, im Fernsehen auftritt. Sie spielen »I Wanna Be Your Man«. »Aber als die Beatles am 29. August 1966 ihr letztes Livekonzert im Candlestick Park in San Francisco spielten, fingen die Stones erst an … und machten seither kaum Pause«, schreibt die Autorin.
Die Rock’n’Roll-Journalistin beschwört in ihrem neuen Buch das Vermächtnis der Rolling Stones: ikonisch, kommerziell unaufhaltsam als Band; aber auch widersprüchlich und gelegentlich verstörend als Individuen und Solokünstler. Mit ihren musikalischen »Solo-Errungenschaften« konnten Jagger und Richards John Lennon, Paul McCartney und George Harrison nicht das Wasser reichen, heißt es bei Jones.
Das abgenutzte und peinliche Motto »Sex, Drugs and Rock’n’Roll« lebten die »Londoner Jungs« vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten bis zum Exzess. Den Bandkollegen die Lebensgefährtin auszuspannen wurde zum Wettbewerb. Es sind die trostlosesten Seiten ihrer Biographie. Lesley-Ann Jones spart sie nicht aus, es ist ein ehrliches Buch, das einen wenig schmeichelhaften, ja schonungslosen Blick auf den Egoismus einiger Bandmitglieder und ihren gefühllosen und diskriminierenden Umgang mit Frauen wirft.
Wie die Autorin schreibt, sind die Rolling Stones »immer noch auf dem Globus unterwegs wie rostige Panzer, die in keinen Krieg ziehen müssen. Sie hüpfen, wippen, blinken, posieren, diese siebzigjährigen Karikaturen mit Gesichtern, die aus der Mikrowelle stammen könnten, aber wie ewige Dreißigjährige daherkommen«. Weiter: »Mag sein, dass sie von Drogen und anderen Übeln inzwischen abgekommen sind, doch das Touren ist immer noch ihre gefährlichste Sucht. Jeder Künstler macht diese Erfahrung, ob er‘s zugibt oder nicht. Das ist Showbusiness. Je heller das Licht, umso dunkler der Schatten.« Und für Bob Dylan steht ohnehin fest: »Die Rolling Stones sind wirklich die größte Rock-’n‘-Roll-Band der Welt und werden es immer sein. Auch die letzte. Alles, was danach kam, Metal, Rap, Punk, New Wave, Pop-Rock, egal was … alles lässt sich auf die Rolling Stones zurückführen. Sie waren die Ersten und sind die Letzten, und niemand hat es jemals besser gemacht.«
Titelangaben
Lesley-Ann Jones: The Stone Age – 60 Jahre The Rolling Stones
Aus dem Englischen von Conny Lösch
München: Piper Verlag 2022
464 Seiten, 28 Euro
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