Den westlichen techno-zentrischen Mindset umpolen

Filme | Neptune Frost

Auf einem Elektromüll-Friedhof in Burundi plant ein anarchisches Kollektiv glamouröser Cyber Punk Hacker die Revolution. Der afrofuturistische Musicalfilm »Neptune Frost« zeigt diese phantastische Odyssee, wild und geheimnisvoll – ein bildgewaltiges Feuerwerk von poetisch-bizarrer Sinnlichkeit. Von SABINE MATTHES 

Filmplakat von Neptune FrostNachdem John Dunlop 1888 den Gummireifen erfand, mussten Millionen Kongolesen zur Gewinnung des dafür nötigen Kautschuks ihr Leben lassen. Die koloniale Blutspur zieht sich bis heute – von der industriellen zur digitalen Revolution. Die Gewinnung der Mineralien für unsere saubere digitale Glitzerwelt – Computer, Smartphones und E-Autos – beruht auf schmutziger, analoger Ausbeutung von Mensch und Natur. Auf Kriegen und Konflikten mit Millionen Toten und Flüchtlingen im Kongo, Ruanda, Burundi, Uganda. »Technology was the name of my brother«, sagt Matalusa im Film. »It´s technology that guides us today. They use our blood and sweat to communicate with each other, but never heard our voice. Until now.“ »Neptune Frost« ist ein phantastischer, bildgewaltiger, sinnlich-poetischer Aufschrei dagegen.
 
In einer Coltan Mine von Burundi reckt der Minenarbeiter Tekno einen Gesteinsbrocken klagend gen Himmel und wird von einem Aufseher erschlagen. Die Arbeiter trommeln Wehklage und Aufruhr, der Bruder des Ermordeten flieht. Sein Name ist Matalusa. »Mata« wie »martyr« und »lusa« wie »loser« – oder wie »Martin Luther King«. Der Name ist Mission und die muss erfüllt werden. So führen kosmische Kräfte ihn traumwandlerisch durch Hügel und Wälder zu einem Rebellen-Camp ehemaliger Minenarbeiter und Außenseiter – dem Hacker-Dorf Digitaria. Zur gleichen Zeit stirbt die Mutter des zweiten Protagonisten Neptune. Ein Priester klopft nach dem Begräbnis an seine Tür, setzt sich zu ihm, will ihn verführen. Neptune schlägt den Priester nieder und flieht. Er folgt dem Flug einer weißen blutverschmierten Taube. Auf einer Fähre über dem See packt er seine High Heels aus dem Rucksack, entpuppt sich in flammend rotem Kleid als Frau und landet als Intersex Hackerin Neptune ebenfalls in Digitaria. Neptune und Matalusa verlieben sich. Aus dem Kraftquell ihrer Liebe schlagen magische Funken und entfachen die Revolution. Sie soll die Welt befreien von der westlichen techno-zentrischen Hegemonie und sie mit deren eigenen Mitteln schlagen. Den Mindset umpolen, ein Reset für eine neue Zivilisation.

Es ist ein exzentrischer Haufen anarchischer Hacktivisten in glamourösen Cyber-Punk Outfits. In den Hügeln Burundis haben sie ihre High-Tech Kommandozentrale auf einem Elektromüll-Friedhof errichtet. Rund um die Hackerin Memory, mit ihrem zur Festplatte mutierten Arm, planen sie im Recycling Feldlager den Umsturz. Sie hinterfragen alles, lehnen sich auf gegen patriarchale Gewalt und ein tyrannisches Regime, gegen „das System« und „die Autorität«, die ihren Geist kontrollieren und sie zu »Robotern« machen wollen. Für ihre Utopie einer grenzenlos freien, gleichberechtigten, sinnlichen Welt wollen sie das Bewusstsein der Menschheit hacken. In der Schwüle der Nacht treffen sie sich unterm Sternenhimmel. Ein subversiver Reigen seltsamer Zwitterwesen. Wie surreale Rieseninsekten – mit Fühlern, Antennen und Drähten – funken, trommeln, morsen, blitzen, singen, wispern und dichten sie ihre geheimnisvoll-poetische Codes in den Äther des Weltalls und des World Wide Web. »Fire in the Sky«. Konspirative Glühwürmchen, brennende Seelen, Glitzer und neonschrilles Make-up, leuchtende Wattebäusche im Haar. Fluoreszierende Speicherräder kreisen auf ihren Köpfen, Planetensysteme wie Kronen. Funkelnde, tribalistische Kostüme und schuppige Schlangenhaut aus Computertastaturen. Ihre kryptischen Botschaften aus einer fernen Welt erinnern an Stimmen aus dem Totenreich, wie sie in Jean Cocteaus »Orphee« aus dem Autoradio kommen. Die Hacktivisten grüßen sich mit der prophetischen Parole »Unanimous Gold-mine« – was für einen Schatz geballter Energie und kollektiven Reichtums stehen könnte.

Wie kam es zu diesem irren Bilderrausch? Diesem wilden Ritt von soghaft-halluzinatorischer Schönheit? Einem eklektischen Mix unterschiedlichster Stile, Themen und Sprachen – changierend zwischen Dystopie und Utopie, spiritueller und digitaler Welt, Traum und Wirklichkeit, Poesie und Zorn? »Neptune Frost« ist der Debütfilm von Saul Williams und seiner Frau Anisia Uzeyman, hatte 2021 Premiere in Cannes und sorgte auf zahlreichen internationalen Festivals für Furore. Saul Williams stammt aus New York, mit Wurzeln in Haiti und ist bekannt als Musiker, Rapper, Spoken-Word Poet, Schauspieler und Aktivist. Konzept und Musik für den Film entwickelte er aus seinem fünften Soloalbum »Martyr Loser King« (2016): Ein junger Hacker, der sich in einem armen Land Gedanken macht über eine soziale und politische Revolution, das Bewusstsein hacken und ersetzen will durch eine neue Art des Denkens über das Selbst und die Systeme, denen wir unterworfen sind. Williams schwebte ein Held vor, »wie ein virtueller Banksy, der diese Hacks als Performance Kunst macht. Und seine Beziehung zu Neptune ist wie zum Mutterschiff.« Er sagt, er schleiche sich meist langsam an ein Projekt heran, wie an ein wildes Tier und brauche etwa vier Jahre zur Fertigstellung. David Bowie habe ihn befreit und ihm den Mut gegeben, in seiner Kunst und Musik so queer und schräg zu sein, wie er wollte. Bowie habe großen Einfluss auf ihn gehabt, seit er die »Ziggy Stardust« Songs in den Bars von Brasilien gehört hatte, wo Williams als Teenager Austauschschüler war. Als er nach New York zurückkam, war gerade Spike Lee`s »Do the Right Thing« (1989) der große Hit. Außerdem war er von Filmen wie »Jesus Christ Superstar« geprägt und dem südafrikanischen Anti-Apartheid Musical »Sarafina!«, das 1988 am Broadway Premiere feierte und Musik mit Politik verband. So schwebte Williams das Projekt ursprünglich als Graphic Novel und Musical vor, ehe Produzenten ihn zu einer Filmversion überredeten. Anisia Uzeyman führte Co-Regie und Kamera, sie ist Schauspielerin und Dramatikerin, kommt aus Ruanda und wuchs in Frankreich auf. Man spürt, dass Sie zum Film eine ganz andere Sensibilität beiträgt. Mit 15 ging sie beinahe täglich ins Kino und verliebte sich in die Filme von Godard, Pasolini oder David Cronenberg. Für »Neptune Frost« inspirierte sie die Farbpalette von Wong Kar-Wai – wie man mit Farben eine Stimmung kreiert – und die Science-Fiction Seite von Tarkowski. Beide, Uzeyman und Williams, verehren den senegalesischen Filmemacher Djibril Diop Mambéty, mit seinem Roadmovie »Touki Bouki« (1973), als einen Meister des afrikanischen Kinos. In ihren Weißen Kulturerfahrungen aber fehlten ihnen schwarze Identifikationsfiguren. Das wollten sie ändern, denn schwarze Helden haben nicht nur andere Looks, sondern auch andere Narrative.
 

Anisia Uzeyman und Saul Williams lernten sich während eines Filmdrehs 2010 im Senegal kennen. Ihre Liebesgeschichte und die daraus entspringende kreative Kraft erinnern an die beiden Filmhelden – Williams hatte sein spirituelles »afrikanisches Mutterschiff« Uzeyman gefunden. Auf dem Markt in Dakar beobachtete Williams junge Senegalesen mit iPhones, die auf Sabar Trommeln Musik machten. Dieser Dialog traditioneller und moderner Kommunikationsmittel faszinierte und inspirierte ihn. Zur selben Zeit kursierten Storys über den Arabischen Frühling und über US-amerikanische Evangelikale, die afrikanischen Politikern, wie in Uganda, gegen Geld anti-LGBT Gesetze aufdrängen wollten. Williams erfuhr von Blutmineralien und Coltan im Kongo und von riesigen Elektroschrott-Deponien so groß wie Dörfer. Er fragte sich, ob dieselben Flugzeuge, die zuerst die Mineralien ausfliegen, dann die ausgedienten Computer-Leichen als Schrott wieder zurückfliegen. So entstand die Idee zu Digitaria. In den USA waren damals Whistleblowing und Chelsea Manning ein Thema. Williams wollte all diese News unter einen Hut bringen und erarbeitete das Konzept für den Charakter von Neptune Frost – als intersexuellen ugandischen Hacker. 2016 reisten Williams und Uzeyman nach Ruanda und begannen ihr Filmteam zusammenzustellen – eine etwa 100-köpfige Crew multi-talentierter Künstler ausschließlich aus Ruanda, Burundi und Kenia. Damals hielten sich bereits über 300.000 burundische Flüchtlinge in Ruanda auf. Auch deren Geschichten flossen mit ein in die Songs – gesungen wird auf Kirundi, Französisch, Suaheli und Englisch. Uzeyman und Williams waren überwältigt von dem großen Schatz außergewöhnlicher Künstler, den sie in Kigali vorfanden. Gedreht wurde der Film in 27 Tagen in Ruanda, bis zum Corona Shutdown am 8. März 2020, spielt aber in Burundi. Cedric Mizero, der 25-jährige geniale ruandische Modedesigner, kreierte die extraordinären futuristischen Kostüme und das Setdesign, er brachte seine eigene Gruppe von Künstlern mit. Der burundische Rapper und Aktivist Kaya Free spielt Matalusa. Wie viele Studenten und Künstler die im Film mitwirken, war er 2015 als Flüchtling wegen der politischen Unruhen in Burundi nach Ruanda gekommen. Er schrieb den Song »Mr. Google« für den Film: »You`re wrong and you still doing it / You betrayed me and then you`re rich / So fuck Mr. Google / Brothers. Gone! M-Windows. On! / Sisters. Gone! Google. On! / Coltan. Gone! All Cars. On! / Mountains. Destroyed! IPhones. On! / Conclusion. War! Happyness. Gone! / For this Phone and this Car. One two three must die. / It´s a bussiness, so don`t cry. One soul for one car.«

 
»Neptune Frost« gehört zum blühenden Stammbaum afrofuturistischer Filme. Neuerdings auch bereichert von afrikanischen low-tech Science-Fiction-Filmen wie dem rätselhaften angolanischen »Air Conditioner« (2020), wo durch eine seltsame Heimsuchung in Angolas Hauptstadt Klimaanlagen wie zum Selbstmord von Gebäuden stürzen. In dem Kultklassiker »Space Is the Place« (1974) war für Sun Ra die Errettung und Selbstermächtigung der Schwarzen nur in einem außerirdischen Garten Eden denkbar, im Weltraum. In den »Black Panther« Filmen (2018 und 2022) heißt das magische Utopia Wakanda und liegt im afrikanischen Busch. Wakandas Macht und technologische Überlegenheit beruht auf dem Schlüsselelement Vibranium – das für Coltan und den gesamten Rohstoffreichtum der Region stehen könnte. In »Neptune Frost« heißt die Zufluchtsstätte Digitaria, das Kraftzentrum der Selbstbefreiung und des Umsturzes. Von hier aus nehmen die Hacktivisten Rache und zeigen dem weißen männlichen Silicon Valley den Stinkefinger. Saul Williams verweist auf die Dogon in Mali. Laut ihrer Kosmologie kommen die Dogon vom Planeten Sirius und ihr Zahlensystem sei binär. Als kleinster und schwerster aller Sterne gelte ein Stern namens Digitaria, der sich um Sirius dreht und der Ursprung aller Kreation der Welt sei. Die Idee eines magischen Realismus existiere in anderen Kulturen und besonders in afrikanischen seit Ewigkeiten. »Many indigenous cultures have been on some space age shit for ages, before the Jesuits and colonizers came and whipped it out of them«, drückt Williams es aus. Der Film spreche von all dem – es ist der Inspirationskern des Films. Das Coltan habe Kraft in einem tatsächlichen Sinne, aber sicher spüre man diese Energie und den Reichtum des afrikanischen Kontinents mit all seinen wertvollen Mineralien, auch wenn man über den Boden gehe: »Don`t you think it affects the music, the language, the culture? The future is as much behind, as it is ahead, as it is the present.«

| SABINE MATTHES
| Abbildungen: Kino Lorber

Titelangaben
Saul Williams, Anisia Uzeyman: Neptune Frost
USA, Ruanda
2021, 105 Minuten
Sprache: Kinyarwanda, English, Swahili and French with English subtitles
Regie: Saul Williams, Anisia Uzeyman
Cast: Cheryl Isheja, Kaya Free, Eliane Umuhire, Dorcy Rugamba, Rebecca Mucyo, Tresor Niyongabo, Elvis Ngabo
Produzent: Stephen Hendel

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