Nevo lebt in einem Haus, das sie noch nie verlassen hat. Besonders lustig geht es in diesem dort nicht zu: Für alles gibt es Regeln. Und wer sich nicht daran hält, bekommt Probleme. Aber dann geschieht etwas, das Nevo zum Handeln zwingt. Von ANDREA WANNER
Eigentlich ist so ziemlich alles verboten in diesem Haus, dessen genaue Größe niemand zu kennen scheint. Nevo lebt mit ihrer Mutter in Zinnober Vier, Nummer siebenundzwanzig in einer winzigen Einzimmerwohnung. Nebenan wohnt ihre beste Freundin Juma, mit der sie gemeinsam in die Schule geht. Die ist auch im Block Zinnober, nur ein paar Treppen höher. Wie es über Zinnober und darunter weitergeht, wissen die beiden nicht. Was sie wissen ist, dass Fangespielen in den Fluren verboten ist. Aber es ist der einzige Ort, wo so etwas überhaupt möglich. Also tun sie es von Zeit zu Zeit. Auch wenn es gefährlich ist: Wer erwischt wird, bekommt eine Ermahnung. Oder noch schlimmer einen Tadel. Und mehrere solcher Delikte, bei denen man erwischt wird, können dazu führen, dass man im Haus weiter nach unten ziehen muss. Eine furchtbare Drohung, denn weiter unten soll alles viel schlechter sein.
Aber Nevo und Juma sind Kinder, die manchmal rennen müssen. Zunächst erfolgt eine Erinnerung an die zu befolgende Regel über den Lautsprecher. Und dann taucht schlimmstenfalls die Fluraufsicht auf. So auch an diesem Tag. Nevo wird erwischt, während Juma sich gerade noch in den Wäscheschacht retten kann. Nevo hat Glück im Unglück: Es bleibt bei einer schriftlichen Ermahnung. Doch als sie, nachdem die Luft wieder rein ist, Juma aus dem Wäscheschacht befreien will, ist die verschwunden. Also ob das nicht schrecklich genug wäre, tun alle Erwachsenen so, als hätte es sie nie gegeben. An ihrer Stelle taucht noch am selben Tag Miu in der Nachbarwohnung auf. Nevo ist verzweifelt und beschließt, sich auf die Suche nach Juma zu machen. Auch wenn das bedeutet, dass sie in die Tiefen des Hauses hinunter muss.
Maja Ilisch ist eine versierte Fantasyautorin, die mit geringen Mitteln maximale Spannung erzeugen kann. Hier ist es eigentlich nur ein Hochhaus mit Stockwerken in verschiedenen Farben und eine kafkaeske Hausverwaltung. Geschickt spielt sie auf soziologische Schichtenmodelle an, wo oben immer besser und unten schlechter bedeutet. Was genau dieses »unten« bedeutet, weiß niemand. Aufstieg scheint auf jeden Fall erstrebenswerter als Abstieg, aber im Prinzip sollen alle da bleiben, wo sie sind. Und was sich hinter der mysteriösen Hausverwaltung verbirgt, ist auch nicht klar. Wer steckt dahinter?
Nevo zieht los, um ihre Freundin zu finden, aber Treppenstufe um Treppenstufe drängen sich ihr mehr Fragen auf. Sie lernt merkwürdige Menschen kennen, kämpft sich tapfer weiter, auch wenn es immer dunkler wird und immer mehr nach Müll stinkt, je tiefer sie gelangt. Der Weg zurück nach oben scheint keine Option, denn er wird streng bewacht, an ein Durchkommen ist nicht zu denken.
Düster und bedrohlich wirkt die Geschichte an vielen Stellen, obwohl keine Monster oder Gruselgestalten auftauchen. Die unhinterfragte Hierarchie des Hauses ist Bedrohung genug, das, was mit denen passiert, die gegen das Regelwerk verstoßen, ist unklar und das macht es nur beunruhigender. An der Seite von Mat bahnt sich Nevo den Weg in ungeahnte Tiefen. Ilisch baut kleine Momente der Comic Relief ein, wenn sie Mat dem Mädchen einen Regenschirm, den Nevo noch nie zuvor gesehen hat, erklärt: Mat lässt den Schirm immer wieder auf- und zuschnappen: »Na, es ist ein Schirm, und er regt sich«.
Manchmal muss man den Mut haben, dem Weg eines Klaviers zu folgen, auch wenn das nicht ungefährlich ist. Manchmal darf man Dinge nicht unhinterfragt gelten lassen, wenn man die Wahrheit herausfinden will. Die kleine Heldin von Maja Ilisch ist ein wunderbares Beispiel für Zivilcourage und wahre Freundschaft, die vor nichts zurückschreckt.
Nach 300 Seiten darf man aufatmen – und es bleiben doch viele Frage offen. So viele, dass man sich eigentlich fast sicher sein darf, dass das Abenteuer weitergeht. Denn es gibt nicht nur dieses Haus mit Etagen in Rosa, Sonnengelb, Blaugrün und zig anderen Farben, es gibt auch noch ein »Draußen«…
Titelangaben
Maja Ilisch: Unten
Hamburg: Dressler 2023
304 Seiten, 16 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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