Wenn ein Haus zu einem Stück Geschichte wird …

Kinderbuch | Thomas Harding: Das alte Haus an der Gracht

… und wenn dann noch diese Geschichte über ein Haus in ein wunderbares Buch verpackt ist, dann lohnt es sich, das Ganze einmal näher zu betrachten: Es ist nämlich ein ganz besonderes Haus, in Holland, in Amsterdam, an der Prinsengracht 263. BARBARA WEGMANN hat sich das Buch angeschaut.

Eine Häuserfront an einer Gracht. Eine schwarze Katze betritt ein Haus durch die offenstehende Haustür. An einer Straßenlaterne lehnt ein Fahrrad,Eine ganz alte Karte von Amsterdam eröffnet das Buch. Eine Karte von 1580, einer Zeit, in der Amsterdam natürlich noch ganz anders aussah als heute. Ein kleines Schild weist darauf hin, wo einmal, gar nicht so viele Jahre später, jenes heute so berühmte‚ hohe, schmale Haus an der Gracht gebaut werden wird. Wo einst feuchtes Marschland war, viele Tiere an diesem »stillen und glücklichen Ort« lebten, die Natur sich selbst überlassen war, dorthin zog es nach und nach vor etwa 400 Jahren Menschen, die das Land bewohnbar machten. Sie entwässerten es, bauten Grachten, »wie die Holländer ja heute noch die Kanäle nennen« und siedelten sich an. »Sie bauten auf den Pfählen ein schönes Haus mit dicken Ziegelmauern und festen Böden aus Tannenholz und einer grünen Eingangstür«. Der Steinmetz, der dort einzog, wollte noch mehr Platz haben und baute auch ein Hinterhaus. Haus um Haus entstand in der Nachbarschaft, auch eine Kirche. Erst zum Schluss des sehr beeindruckenden Buches wird sich herausstellen, dass viel, viel später auch ein Mädchen hier einmal wohnen wird, ein Mädchen mit einem unendlich tragischen Schicksal, ein Mädchen, das der Welt ein weltberühmt gewordenes Tagebuch hinterlassen wird.

Schnell beginnt man, sich in diesem sehr stimmungsvollen und einladenden Buch in die Geschichte hinein zu versetzen. Wie ein roter Faden führt einen das Haus durch die Jahre, die Jahrhunderte, die harten Winter, durch Not und Pest, die sich in der Stadt ausbreiten. Es zeigt die sozialen Verhältnisse, das Miteinander der Menschen. Immer wieder wird das Haus anders genutzt, wohnen andere Menschen dort, werden wir beim Blättern mit anderen Schicksalen konfrontiert. Eine junge Frau, vertrieben und ohne Zuhause, wohnt dort mit ihren Kindern eine Zeit lang, ein reicher Kaufmann zieht mit Familie in das Haus ein und lässt es in neuem Glanz erstrahlen.

Sanft und geradezu mitfühlend beschreibt Bestsellerautor Thomas Harding Menschen, die Zeit, die Umstände. Eine wechselvolle Geschichte lässt er in liebevollen Beschreibungen, oft sind es nur kurze Sätze, wach werden. Worte und Sätze, die wiederum Bilder lebendig werden lassen. Und diese durch Text entstehenden Bilder ergänzen sich vortrefflich mit den stimmungsvollen Illustrationen der so begabten Britta Teckentrup. Keine knalligen Farben, keine aufdringlichen Motive, alles hat Tiefe in den Bildern, Sinnlichkeit, ist behutsam dargestellt, in gedämpften Farben ohnehin, manchmal eben auch in den düsteren Farben des Krieges. Harding und Teckentrup, das ist ein Duo, das absolut erfolgreich ist, schon damals mit dem Buch »Sommerhaus aus am See«, auch wieder die ganz persönliche Geschichte eines Hauses.

Ein Chemiker zieht in das alte Haus an der Gracht, eine Familie, die Gemüse in Blechdosen abfüllt, »Immer mehr Menschen lebten nun in den Häusern an der Gracht.« Und schließlich auch ein »hochgewachsener Mann in einem feinen Anzug« mit seiner Familie, darunter ein junges Mädchen mit einem »lieben Lächeln«. Es ist Anne Frank. Die Familie betreibt gemeinsam ein Geschäft für Gewürzmischungen.

Man braucht keine dramatischen Worte zu wählen, um ein Schicksal zu beschreiben: Soldaten kamen eines Tages, »hämmerten an die Türen und stahlen die Träume der Menschen.« Ab da muss sich die Familie verstecken, im Hinterhaus. Freunde helfen und versorgen sie, dennoch werden sie eines Tages festgenommen und weggebracht. »Die Glocken der Kirche läuteten nicht.« Szenen, die berühren und verdaut werden wollen. Für die so junge Generation braucht es noch keine Erläuterungen wer gegen wen und warum überhaupt kämpft. Von Judenverfolgung und Terror ist nicht explizit die Rede, dennoch bleibt es eines der vielen erschütternden Schicksale, die weltweit so austauschbar sind in ihrem Leid.

Das Buch überfällt junge Leser nicht mit Einzelheiten, erst auf den letzten beiden angehängten Seiten nach der Geschichte gibt es den historischen Hintergrund in sachlichen Stichworten. Das Buch hinterlässt aber sicher Spuren, Fragen und viel Neugier auf Weiteres, nicht zuletzt auf das Tagebuch der Anne Frank selbst. Frauen hattes es gefunden und später dem zurückgekehrten Vater gegeben. »Er las es mit wundem Herzen und Tränen in den Augen. Und teilte es mit seiner Familie. Dann mit seinen Freunden. Und dann mit der Welt.«

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Thomas Harding: Das alte Haus an der Gracht
Illustriert von Britta Teckentrup
Aus dem Englischen übersetzt von Nicola T Stuart
Berlin: Jacoby & Stuart 2023
56 Seiten, 22 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren

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