Zu Gast

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zu Gast

Zweihundertfünfzig Jahre, sagte Tilman, das sei wohl kaum vergleichbar, und deutete hinüber zum Gohliser Schlößchen, das, sagte er, als Landsitz des hiesigen Ratsbaumeisters Johann Caspar Richter entstanden sei und heute mit liebevoller Sorgfalt als ein kulturelles Zentrum der Stadt gepflegt werde.

Sie saßen zu viert auf der Terrasse, Farb trug Tee, Yin Zhen, auf, ihr Gast schwieg, was hatte ihn hierher verschlagen, er arbeitete sich an den vielerlei fremden Eindrücken ab, was waren das für seltsame Trinkgefäße, man hielt sie an einem zierlichen Griff, mit kräftiger Farbe waren Drachen aufgetragen, und das Getränk, was hatte es für einen lieblichen, zarten Geschmack, die Dinge weckten seine Sympathie.

Eine andere Welt, sagte er und lächelte milde: Wir kennen keine Schlösser, unsere Könige ruhen in reich ausgestatteten Gräbern.

Das Schlößchen sei ein Rokokobauwerk, erklärte Tilman, an dessen Hauptgebäude, einen  dreigeschossigen Turm, seien zwei rund fünfzig Meter lange Seitenflügel östlich und westlich angelagert, und deutete zum Hauptgebäude, dessen Sockelgeschoß, sagte er, an ein Restaurant verpachtet sei, in dem Festsaal im oberen Geschoß sei in einem Deckengemälde von Adam Friedrich Oeser das Leben der Psyche ausgestaltet.

Faszinierend, was dem Menschen alles möglich sei, sagte der Gast, nein, so etwas habe er nicht gesehen, und tat sich ein Stück Pflaumenkuchen auf, auch in den Königsgräbern seien Wände und Decken künstlerisch gestaltet, er selbst sei der elfte der Ramessiden, stamme aus einer zerfallenden Kultur und könne zwar von bedeutenden Vorfahren erzählen, erfahre selbst aber den Niedergang dieser einst blühenden Zivilisation, der die Götter nicht länger wohlgesonnen seien, Gräber würden geplündert, Korruption nehme überhand bei Priestern wie Beamtenschaft, Ramses IX. habe sie noch entschieden bekämpft, nun gehe die zwanzigste Dynastie ihrem Ende entgegen, eine chaotische Zwischenzeit kündige sich an.

[Vor dem Eingang standen zwei Schlägertypen, die aus demselben Film wie das Gebäude stammten. Ein paar Sekunden lang sah es so aus, als ob sie mich sofort fertigmachen wollten, aber dann flüsterte der eine Kerl dem anderen etwas zu.]

Das sei der Lauf der Dinge, sagte Farb, auch die Zivilisation der Moderne, so prunkvoll sie sich gern selbst inszeniere, habe mit destruktiven Energien zu kämpfen und sei in ihrem Fundament brüchig, die neueste Errungenschaft, die allerorten lauthals gepriesene digitale Kommunikation, sei Teil einer hochempfindlichen, verletzlichen Infrastruktur und erweise sich als erschreckend zugänglich für milliardenschwere Erpressung.

Tilman rückte ein Stück zur Seite und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Anne tat sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

Farb nahm von der Schlagsahne.

Welchen Eindruck er von der Stadt gesammelt habe, fragte Anne.

Ramses erschrak. Oh, er fühle sich überwältigt, sagte er und suchte mühsam nach Worten.

Tilman stand auf und tat einige Schritte auf der Terrasse.

Farb empfand die entstehende Pause als peinlich.

Die Eindrücke seien zu frisch, als daß er sie beschreiben könne, sagte Ramses, doch wie ertrügen sie nur den ohrenbetäubenden Lärm, und alles sei so unablässig, so rastlos in Bewegung, daß man Momente der Stille lange suchen müsse, er habe sie in der Thomaskirche gefunden, der Gesang der Thomaner werde ihm unvergeßlich bleiben, die menschliche Stimme könne verzaubern, aber danach sofort der unausstehliche Lärm und Trubel des Alltags, ein schriller Kontrast, jeder sei unterwegs von hier nach dort, der Verkehr wirke desorganisiert, brauche man wirklich den erdrückenden privaten Individualverkehr neben den Straßenbahnen, der Eisenbahn, den Bussen, auch sei die Luft kaum noch zu atmen, nein, dauerhaft unter diesen Umständen zu leben, das sei für ihn keine Option.

Tilman setzte sich und legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

Anne lächelte. Da lege er den Finger auf eine Wunde, sagte sie.

[Es geht nicht mehr um Schnaps und Huren. Es geht um hochtechnologisierte Verbrechen, die auf den Verladerampen der Flughäfen und in den Finanzhäusern der Wall Street stattfinden.]

Farb überlegte, mit welchem Recht jemand, der vor mehr als dreitausend Jahren gelebt habe, die Moderne kritisiere, und tat sich noch einen Löffel Sahne auf.

Er verstehe vieles nicht, sagte Ramses, und er habe keine Ahnung, auf welche Weise die Nahrungsmittel verteilt würden, aber es sei unverständlich, daß Kartoffeln von weit her aus Ägypten importiert würden, Kaffee aus Übersee, Bananen aus Südamerika, Avocados aus Israel, und das seien nur einige Beispiele, sei denn Deutschland nicht ein wohlhabendes Land und lasse dennoch den Eindruck zu, es müsse sich mit fremden Federn schmücken, mag sein er sei naiv, aber das gehe nicht in seinen Kopf.

Farb aß vom Pflaumenkuchen und schwieg.

Anne lächelte.

Tilman stand auf und tat einige Schritte auf der Terrasse.

 

[Fremdtexte aus Michey Spillane, Tod mit Zinsen]

| WOLF SENFF
| Foto: Jörg Blobelt creator QS:P170,Q28598952, 20090908405MDR Leipzig Gohliser Schlößchen, CC BY-SA 4.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Erschöpfte Gesellschaft

Nächster Artikel

Grandiose Rückzugsorte

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Entscheidung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Entscheidung

Ob es nicht an der Zeit wäre, fragte der Ausguck, wieder auf Walfang zu gehen.

Die anderen nickten.

Höchste Zeit, bekräftigte London.

Wie lange hatten sie ausgesetzt, überlegte Harmat, sechs Tage?

Die Tage würden ihm lang, die Untätigkeit setze ihm zu, erklärte Bildoon.

Ob die Blessuren vom ersten Fangtag denn ausgeheilt seien, fragte Pirelli.

Alles kuriert bis auf Eldins Schulter, sagte Crockeye.

Eldin schwieg.

Selbstverständlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Selbstverständlich

Der Norden ist kühl. Im Winter fällt Schnee. Im Herbst fallen Blätter. Unter den Weihnachtsbäumen liegen Geschenke.

Wir atmen Luft, wir trinken Wasser, Kirschen sind süß, wir ernähren uns von den Früchten der Erde.

Karttinger 6

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 6

Eine Brücke!, rief der Geheimrat.

Zwar sei es hier trocken, sagte der Moderator, doch gelegentlich stoße man auf Wasser, wo man es gar nicht vermute, es sei denn, der Reiter sei ortskundig.

›Brücke am Rio Lobo‹, warf Nahstoll ein, neunzehnsiebzig, Howard Hawks, der Rio Lobo knietief und fünfzehn Fuß breit, grünes Gebüsch wächst an den Ufern und spendet Schatten, sanft und verlockend spielt das fließende Wasser zum showdown auf.

Der Geheimrat keuchte angestrengt

heidelberg-nord, abendlauf

TITEL-Textfeld | Şafak Sarıçiçek: heidelberg-nord, abendlauf der zeiger weist auf vier uhr früh die stadt liegt betrunken zu beiden seiten des neckars schwarzer wasserleibesfülle einsame lastwagen tuckern

Karttinger 4

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 4

Als die Karttinger Nahstoll in seiner Klause zwischen Ahrensburg und Rahlstedt besuchte, unangekündigt besuchte, das brachte ihn auf, schilderte sie ihm, wie in der Vendée das Land, ein weitläufiges Flußdelta, dem Meer abgetrotzt worden sei, das Kanalsystem sei weitläufig erhalten und gehöre ins Ressort Denkmalpflege,  der Sumpf sei trockengelegt, die Hautevolee aus der Hauptstadt habe sich dort eingenistet, sie habe Bücher gelesen, Filme gesehen, erzählte ihm von der Bartholomäusnacht und den Feldzügen gegen die Hugenotten, als hätte er das nicht selbst gewußt, er fand das aufdringlich, doch ihre Stimme schmeichelte seinen Ohren, vom Aufbegehren der Royalisten gegen die Jakobiner, die Vendée sei immer schon widerständig gewesen, auch dieser Tage im Kampf gegen die Rentenreform, doch die Unruhen nähmen überhand.