//

Taiping

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Taiping

Ein Aufstand, und deshalb, sagst du, flüchteten sie zuhauf über den Ozean, wie kommst du darauf, Thimbleman?

Sie erzählen es in der Barbary Row, die Welt ist aus den Fugen.

In deinem Alter solltest du dich nicht in zwielichtigen Spelunken herumtreiben. Aber es stimmt, in südlichen Provinzen Chinas tobt ein Aufstand, eine mächtige religiöse Bewegung gewinnt an Macht, 1851 wird das Königreich Taiping ausgerufen, das ist jetzt eine Handvoll Jahre her, und der Anführer ernennt sich zum Himmlischen König, fünfzehn Jahre lang, Wuhan wird erobert und Nanjing wird eingenommen, der Aufstand wird zwanzig bis dreißig Millionen Menschenleben fordern, die Welt ist aus den Fugen.

Was geht es uns an, sagte Crockeye, das geschieht auf der anderen Seite des Planeten.

Ob er nicht zugehört habe, wollte LaBelle wissen, sie flüchten vor Tod und Zerstörung.

In der Stadt gehe es eh drunter und drüber, LaBelle, sie fänden auch hier keine Sicherheit.

Sie hätten sich gemeinsam eingerichtet, eine Chinatown nicht weit vom Hafen, und kümmerten sich gegenseitig.

Es sei ein Elend, sagte der Ausguck, stand auf, lief einige Schritte in die Nacht und schlug einen Salto.

Die Männer waren erschöpft, sie hatten tagsüber zwei Wale zur Strecke gebracht, sie genossen die Stille der Nacht.

Eldin lächelte und legte einen Scheit Holz ins Feuer.

So seien die Zeiten, sagte er.

Der Taiping-Aufstand, sagte Gramner, forderte entsetzlichen Blutzoll, das sei doch bekannt.

Kein Vergleich mit unserer idyllischen Lagune, spottete Crockeye.

Wir sind blutrünstige Walfänger, vergiß das nicht, mahnte Bildoon.

Trotzdem, sagte Crockeye.

In den südlichen Provinzen Guangxi und Guangdong sei die gewachsene Struktur erschüttert, erklärte Sut, und das seit langem, durch Piraterie schon zur Jahrhundertwende, durch die gesetzlosen Aktivitäten der Triaden und den exzessiven Opiumhandel der Briten während der zwanziger und dreißiger Jahre, ausgemusterte Söldner aus dem ersten Opiumkrieg zögen als Räuberbanden durchs Land, und zudem habe die britische Flotte die Piraten ins Landesinnere in das Flußsystem Guangxis verdrängt, die einträgliche Handel sei nach Shanghai verlagert worden, die Menschen leiden.

Was für ein Chaos, stöhnte Harmat.

Crockeye feixte, das war nicht sein Tag heute.

Eine entsetzliche Gemengelage, sagte der Rotschopf, die Ursachen kannst du kaum sortieren, aber so sind sie, die Welt ist aus den Fugen.

Vielschichtig, sagte Pirelli und suchte nach Ordnung, allein der Opiumkonsum, sagte er, habe zahllose Existenzen untergraben.

Die Flammen schlugen hoch, der Ozean rauschte von fern, der Abend in der Ojo de Liebre war friedlich.

Die Briten, sagte Pirelli, die sich den Anstrich ehrbarer Kaufleute gaben, schmuggelten das Opium aus Indien bis in die südlichen Provinzen, versteht ihr, die Regierung des Kaiserreichs suchte zwar dagegen einzuschreiten, jedoch ohne Erfolg, der Konflikt zog sich über Jahre hin, und der zweite Krieg endete damit, daß französische und britische Truppen den kaiserlichen Sommerpalast Pekings zerstörten, eine Demütigung, die einer Katastrophe gleichkam, und China, durch die Taiping-Rebellion zusätzlich geschwächt, wurde vertraglich gezwungen, seinen Handel für europäische Interessen zu öffnen.

Drunter und drüber, sagte Bildoon.

Immer schon, sagte der Rotschopf.

Der Westen setzte sich durch, sagte Harmat.

Auf der anderen Seite des Planeten, wiederholte Crockeye.

Die Verhältnisse in der Stadt seien keinen Deut besser, widersprach Bildoon.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck tauchte aus der Dunkelheit auf.

Was hatte der ständig mit seinem Salto, fragte sich Crockeye entnervt.

Wir müssen die Welt neu denken, sagte Sut, vermutlich sei sie ein Mosaik, bunt, aus vielen verschiedenen Teilen, manches spreche dafür, und ein abgelegener Teil wie unsere Lagune bleibe verschont von dem Getöse und all der Zerstörung, es herrsche ein guter Geist, doch niemand wisse das im Voraus, das könne sich ändern wie sich die Winde drehen, oder eine Flaute trete ein, niemand kenne die Gründe, doch dieser Schonraum bleibe eine Tatsache, unumstößlich, und wechsle wohl von Zeit zu Zeit den Standort, was wüßten wir denn.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Roadtrip voller Fernweh

Nächster Artikel

Zauberhafte Pflanzenrätsel

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Karttinger 7

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 7

Der Moderator schlug der Länge nach hin.

Welch unglückseliges Ende, dachte er noch, und sei Wayne nicht ein Garant für Recht und Ordnung, ein aufrechter Patriot, das könne nicht sein, unmöglich, wer verantworte das Drehbuch, und, sterbend, ob er etwa, errare humanum est, sich täusche, und es habe sich nicht um Wayne gehandelt.

Der Geheimrat seinerseits hatte den beiden mehr oder minder verständnislos zugehört, der Western war nie seins, hatte sich aber, sobald er den Wayne zum Revolver greifen sah, geistesgegenwärtig gebückt und war unter dem Geländer hindurch in den Fluß gesprungen, das hätte der Moderator ihm im Leben nicht zugetraut

Kuba und die Revolution

Kurzprosa | Menschen| Lee Lockwood: Castros Kuba. Ein Amerikaner in Kuba und Michael Zeuske: Kleine Geschichte Kubas Der erstmals in Deutschland veröffentlichte dokumentarische Bildband Castros Kuba gibt einen Einblick in die Ziele der Revolution und zeigt Fidel Castro als einen feinsinnigen und demagogisch begnadeten Politiker. Von BETTINA GUTIERREZ

Wenn der Sprachlehrer zur Spitzhacke greift

Kurzprosa | Javier Marias: Keine Liebe mehr »Je älter ich werde, desto weniger Gewissheiten habe ich«, erklärte der spanische Schriftsteller Javier Marías kürzlich in einem Interview. Vor ziemlich genau zwanzig Jahren war er nach Erscheinen der Übersetzung seines Romans ›Mein Herz so weiß‹ von Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett« des ZDF für den deutschen Sprachraum entdeckt worden. Von PETER MOHR

Robert

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Robert

Halb zehn war seine Zeit gewesen, anzurufen, am Freitag, am Donnerstag oder bereits am Mittwoch, ich hatte gefrühstückt, sagte Tilman, und wir verabredeten uns für den Sonnabend oder den Sonntag zu Kaffee und Kuchen, wir hatten ein gediegenes Stamm-Café aufgetan, nein, nicht das Gnosa, ich ging, du weißt es, Susanne, sonst gern auch ins Gnosa, manchmal bestellte er eine Kleinigkeit zu essen, das war uns zur festen Gewohnheit geworden, nicht jedes Wochenende, aber in regelmäßigen Abständen, das Leben basiert auf unverrückbaren Gewohnheiten, Robert hatte sich auch um seine Enkel zu kümmern, der Zehnjährige spielte im Fußballverein und sang im Schülerchor, wir hatten stets ein Menge Gesprächsstoff.

Farb

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Die Tage vergingen, als wäre nichts geschehen, als wäre Farb noch präsent, als wäre alles wie gehabt, nach dem Frühstück bevölkerte sich der mit einer mannshohen Plane umsäumte Strandabschnitt, die Dänen trafen wie üblich gegen halb zehn von ›Cesar's Palace‹ ein und besetzten ihre Liegen neben dem massiven Felsblock.