//

Irrtum

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Irrtum

Das Leben ist nicht, was es zu sein vorgibt.

Tilman rückte mit dem Sessel näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Wir leben im Irrtum.

Farb warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen, das unter blauem Himmel im milden Schein der Nachmittagssonne sanft glänzte. Er stand auf und zog die Terrassentür auf, es war ein angenehmer Apriltag, aber noch zu frisch, um draußen zu sitzen.

Es ist an der Zeit, auf die Bremse zu treten.

Schwierig. Wo willst du anfangen, Tilman?

Innehalten wäre angesagt, damit wir atemholen können, eine Pause einzulegen, uns zu besinnen, wir müssen uns zuallererst besinnen.

Farb tat sich einen Löffel Sahne auf.

Annika blätterte in einer Zeitschrift.

Ob Nichtstun helfe, fragte Farb.

Das verstehe er falsch, widersprach Tilman, denn was wir erlebten, sagte er, sei ein sich selbst beschleunigender Prozeß, nur zu, nur zu, immer nur zu, und er erinnere an die Fabel von der Katze und die von ihr verfolgte Maus, die auf eine Wand zu renne, und es gehe vor allem darum, Tempo herauszunehmen, schrittweise, damit die Maus Zeit gewinne, zu Besinnung komme, ob sie von der Wand wisse oder nicht, sei offengelassen, doch man frage sich, wann sie es merken werde und wie sie entkommen könne.

Annika lächelte, fragte sich, wie das wohl möglich sein solle, solange die Katze hinter ihr her sei, und schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten heute das Service mit dem lindgrünen Drachen aufgedeckt.

Ob abzubremsen eine Lösung sein könne, fragte sie.

Es existiere keine Patentlösung, sagte Tilman, niemand werde einen Gordischen Knoten finden, den man etwa nur durchschlagen müsse, nein, der geniale Gedankenblitz sei eine Mär, die Mühsal der Ebene stehe bevor, quälend, unumgänglich, ein Weg der Leiden und Entbehrungen – das Klima sei dramatisch überhitzt, die Geschwindigkeit überdrehe, wer Halt finden wolle, müsse nach Haken und Ösen suchen, geringfügige Details nur, vielleicht daß der Markt entschleunigt werde und nicht täglich eine bahnbrechende Neuigkeit herausposaune, es gebe massives Gewese und hinter all dem nichts Neues, du verstehst, wir leben im Irrtum.

Es gilt einen Ausweg zu finden.

Start-up heiße es seit neuestem anstatt Neugründung, sagte Tilman, die Sprache sei von den PR-Agenturen kolonisiert, ›Indianer‹ sei verpönt, gänzlich neu sei das Wort ›N-Wort‹, Intelligenz sei jetzt künstlich, das Auto fahre neuerdings selber, heiße Luft das alles, als innovativ inszeniert und komme rasant daher, daß einem Hören und Sehen vergehe, doch wer diesen Unsinn dirigiere, sei ein Rätsel, rein methodisch gesehen bleibe die alte Leier, sie stiften Verwirrung, nur schneller nur schneller, olle Kamellen, und gutgläubigen Gründern schwirre der Kopf, während sie mit Sprache jonglieren müssen, wer habe das aufgebracht, sie servierten alten Wein in neuen Schläuchen, es müsse schlimm um sie bestellt sein.

Farb griff zu einem Vanillekipferl.

Tilman tat sich Sahne auf die Pflaumenschnitte.

Annika blätterte in einer Zeitschrift.

Wer helfen wolle, müsse aufs Bremspedal treten, konstatierte Farb, und daß sie zu Fall kämen, sei hilfreich, sei ernüchternd, denn Schmerz mache hellhörig, Not schärfe den Blick und fördere das Denkvermögen, der trügerische Zauber verflüchtige sich.

Zu neuen Horizonten aufzubrechen, das sei das Ziel, zu neuen Ufern, sagte Tilman, die Lasten von den Schultern abzuwerfen, die ausgetretenen Pfade zu verlassen.

Die Vanillekipferl hätten an Geschmack verloren, fand Farb, seitdem die Preise für Vanille gestiegen seien.

Annika blätterte in einer Zeitschrift.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Liebeserklärung

Nächster Artikel

Geschichte hautnah

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Maschinenwesen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Maschinenwesen

Von wem das Wort stammt?

Maschinenwesen? Vom Goethe aus Europa.

Und, Thimbleman?

Es trifft.

Wie, es trifft.

Du siehst es überall, wirf einen Blick in den Hafen, der Windjammer werde vom maschinengetriebenen Dampfer abgelöst, und über Land werde der Schienenstrang der Eisenbahn bis hin zum Pazifik verlegt.

Das wäre das Maschinenwesen?

Barrieren

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Barrieren

So oft Lassberg an der Liege vorbeikam, nickte ihm Belten freundlich zu, doch weshalb hatte Belten Kopfhörer auf, es geschah selten, daß hier jemand Kopfhörer trug, Kopfhörer waren im Lager ein Ausnahmefall.

Vermutlich hörte Belten klassische Musik, nur war das Tote Meer kein Ort, an dem man klassische Musik hören würde, der Aufenthalt war in dieser Hitze dermaßen erdrückend, daß jede ernstzunehmende Beschäftigung ausgeschlossen schien, mit Ausnahme der Dänen, ich komme darauf zurück, auch würde Belten kaum eine halbe Stunde durchhalten, seine Kopfhörer waren eine verzweifelte Geste, ein ohnmächtiger Versuch, der Monotonie des Alltags zu entfliehen.

Am Toten Meer

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Toten Meer

Gramner hatte noch nie vom Toten Meer gehört, was sollte das sein.

Ein Salzmeer? Ach was, rief er, jedes Meer sei ein Salzmeer, und sofern keine Wale zu harpunieren seien, gäbe es gar keinen Grund, dort auf Fang auszufahren.

Ein Binnenmeer auf der anderen Seite der Erdkugel, schmaler als die Sea of Cortez und bei weitem nicht so lang?

Um nichts in der Welt würde er sich dort aufhalten wollen, sagte Gramner, zumal auf dem Toten Meer, wie es hieß, keine Schiffe verkehrten, also bitte, die Geschichte vom Walfang sei auserzählt, Punkt, Schluß.

Gelöst

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gelöst

Einschlafen, konstatierte Farb, sei eine komplizierte Materie.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen, sah flüchtig auf das zierliche Drachendekor und stellte die Kanne zurück auf das Stövchen.

Tilman setzte sich aufrecht, zog die Arme an und bewegte die Schultern, ihn schmerzte der Nacken, die Sitzhaltung war denkbar unbequem, nicht allein in diesem Sessel, sondern die Hersteller schienen allgemein wenig Wert auf ergonomische Leitlinien zu legen, ihr Niveau ließ zu wünschen übrig, er überlegte, sich Massagen verschreiben zu lassen, der Mensch sei in jeglicher Hinsicht überspannt.

»Saint Genet« – Eine moderne Heiligenlegende?

Menschen | Jean Genet ist vor 100 Jahre geboren Von der Mutter, einer Prostituierten ausgesetzt, der Fürsorge überstellt, Fremdenlegionär, er desertiert, schlägt sich als Dieb, Strichjunge durchs Leben. Die Folge: Besserungsanstalten, Gefängnis. Die drohende lebenslängliche Verbannung wird nach Fürsprache von Cocteau und Sartre aufgehoben. Die Rettung: Schreiben. – Am 19. Dezember vor 100 Jahren ist Jean Genet geboren. Von HUBERT HOLZMANN