Die Kindheit eines Chefs

Roman | Amélie Nothomb: Der belgische Konsul

Der belgische Konsul gerät als junger Mann in die Geiselhaft kongolesischer Rebellen. Was mag er angesichts der drohenden Todesnähe empfunden haben? »Der Überlebenswille ist nicht zu unterschätzen«, schreibt die belgisch-französische Schriftstellerin Amélie Nothomb im Epilog ihres neuesten Romans, einem feinfühligen Vaterporträt aus ungewöhnlicher Perspektive. Von INGEBORG JAISER

»Ich werde vor das Erschießungskommando geführt. Die Zeit dehnt sich, jede Sekunde dauert hundert Jahre länger als die davor. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt.“ Wie kann eine Geschichte so grausam, aussichtslos und zugleich vollkommen unmittelbar beginnen? Selbst für den literarischen Kosmos von Amélie Nothomb – Meisterin der eiskalten Schärfe und des gnadenlosen Zynismus – beginnt dieser Roman (den man gar nicht als solchen lesen wird) ungewohnt dramatisch. Wenn man bedenkt, dass der Ich-Erzähler Nothomb heißt, Patrick Nothomb.

Sterben als Familientradition

Man sagt, dass angesichts des Todes das eigene Leben noch einmal an einem vorüberzieht. Der Film spult zurück. So auch bei Patrick, dem einzigen Sohn einer glamourösen, doch emotional unterkühlten Bohémienne und eines viel zu jung bei einer Minenräumübung umgekommenen Soldaten (»Was zeigt, dass Sterben bei uns eine Familientradition ist.«). Verzärtelt und verwöhnt wächst der kleine Patrick bei den Großeltern mütterlicherseits auf, bis der frühreife, altkluge Junge in den Ferien zu verarmten Verwandten in die Ardennen verschickt wird. Genau genommen zu den Großeltern väterlicherseits und zu einer Meute wilder, zerlumpter Kinder, die tatsächlich seine spät geborenen Onkel und Tanten sind.

Was als Abhärtungsmaßnahme angedacht war, empfindet Patrick begeistert als aufregendes Survivaltraining. Um jeden Bissen Essen muss gekämpft werden und aus der Not heraus wird Inklusion gelebt. Als Patrick der kognitiv retardierten Donate einen Kanten Brot zusteckt, herrscht Festtagsstimmung (»Dann umarmte sie mich und speichelte mich vor lauter Dankbarkeit ein. Und dieses Mädchen war meine Tante!«).

Generalkonsul in Geiselhaft

Nicht immer gelingt es Patrick, die Contenance zu wahren, auch wenn er stolz darauf pocht, der Sohn eines in die Luft gesprengten Vaters und Enkel eines Generals zu sein. Als in der herumwuselnden Kinderschar zum ersten Mal Nasenbluten auftritt, kippt Patrick einfach um und wird ohnmächtig. Danach steht fest: er kann kein Blut sehen – nicht einmal bei Tatar und Roastbeef. Für seinen weiteren Werdegang wird dieses Handicap nicht gerade förderlich sein. Denn nach jugendlichen Wirrungen studiert Patrick Jura und tritt in den diplomatischen Dienst ein.

Seine erste Stelle führt den jungen Familienvater 1964 ausgerechnet in den gerade unabhängig gewordenen Kongo, wo er in Stanleyville als Generalkonsul Belgien vertreten soll. Hier gerät er in die größte Geiselnahme des 20. Jahrhunderts, als Unterhändler in endlose »palabres« und schließlich vor das Erschießungskommando. Der Rest kann in den Geschichtsbüchern nachgelesen werden – oder in Patrick Nothombs eigenem, 2007 neu aufgelegtem Bericht Dans Stanleyville.

Hommage an den Vater

Ungewohnt einfühlsam und liebevoll, mit überraschender Leichtigkeit und zarter Ironie breitet Amélie Nothomb die ersten 28 Jahre ihres Vaters vor dem Hintergrund familiärer und gesellschaftlicher Erschütterungen aus. Ein gewagter Schritt zur Erlangung der Deutungshoheit, der wohl erst nach dem Tod Patrick Nothombs im Frühjahr 2020 möglich war. Der Roman ist komplett aus der Ich-Perspektive des Vaters und im Präsens verfasst – eine kühne Konstruktion, die jedoch mit Bravour durchgehalten wird.

Premier Sang lautet der französische Originaltitel, der auf Patricks Schwäche anspielt, aber auch auf verwandtschaftliche Blutsbande. Und in diesem Falle hat die sonst in autobiographischen Details nicht zimperliche Autorin fast gänzlich auf einen bissigen Unterton verzichtet. In beeindruckender Regelmäßigkeit veröffentlicht Amélie Nothomb jedes Jahr einen neuen Roman, meist keine 150 Seiten umfassend, mit stark verdichteter, oft hoch explosiver Ausdruckskraft. Der belgische Konsul sticht jedoch spürbar aus den bislang 30 Publikationen hervor – als offensichtliche Hommage an eine bewundernswerte Vaterfigur.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Amélie Nothomb: Der belgische Konsul
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Zürich: Diogenes 2023
142 Seiten. 23 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Amélie Nothomb in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Freibadsaison

Nächster Artikel

Kraftorte

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wie ein Hund umgebracht

Roman | Franz Kafka: Der Process

Oft sind Klassiker totinterpretiert, und es ist nötig, sie mit frischen Augen neu zu lesen. Reiner Stach gelingt es, in seinen Kommentaren in der neu herausgegebenen Leseausgabe von Franz Kafkas Der Process die Deutungen beiseite zu schieben und den Text sehr klug wieder für sich sprechen zu lassen. Von GEORG PATZER

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Roman | Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Nach seinen drei hochgelobten Bänden um die blinde Elitepolizistin Jenny Aaron steht im Mittelpunkt von Andreas Pflügers neuem Roman Ritchie Girl erneut eine Frau. Paula Bloom – ausgebildet in Camp Ritchie in Maryland, daher der Romantitel – gehört zu den Angehörigen des Womans Army Corps (WAC), einer speziellen, 1943 gegründeten Armeeeinheit, in der Frauen, die die USA im Krieg gegen Hitlerdeutschland aktiv unterstützen wollten, ihren Platz fanden. Zumeist in der Etappe, als Schreibkräfte, in Lazaretten oder – wie in Paulas Fall – als Dolmetscherinnen eingesetzt, war ihre Stellung doch nicht unumstritten in Zeiten, in denen man den Platz von Frauen meist noch am heimischen Herd verortete. Von DIETMAR JACOBSEN

Im Land der Spione gehen die Uhren anders

Roman | Mick Herron: Joe Country

Langweilig wird es in der »Slough House« genannten Außenstelle des britischen Inlandsgeheimdienstes nie. Dafür sorgt nicht nur deren ungehobelter Leiter Jackson Lamb, sondern auch die Tatsache, dass immer wieder neue gescheiterte Existenzen in diese »Abteilung für Ausschussware« versetzt werden. Diesmal ist es der von polnischen Exilanten in zweiter Generation abstammende Lech Wicinski. Kinderpornos will man auf seinem Dienst-Laptop gefunden haben, Dateien, von denen er nicht weiß, wo sie hergekommen sind. Ist es nur ein Vorwand, um den wissbegierigen Jungspion kaltzustellen? Während der Mann um die Wiederherstellung seiner Ehre kämpft, bekommen es Lambs Männer und Frauen wieder mit einem alten Feind zu tun und nicht alle von ihnen kommen aus dem kalten, verschneiten Wales zurück, wohin sie von ihm gelockt werden. Von DIETMAR JACOBSEN

Von Tod und Tofu

Roman | Christine Lehmann: Allesfresser Lisa Nerz ohne ihre berühmte Lederjacke? Da muss etwas ganz Besonderes geschehen sein. Ist es auch: Im Internet wird zum Mord aufgerufen. Tod denen, die töten! Denn: »Tiere zu essen ist nicht weit vom Kannibalismus entfernt.« Und warum sollte der, der den Tod von Millionen Kreaturen gutheißt, nicht ebenfalls über den Jordan geschickt werden? Christine Lehmann ist mit ihrem elften Lisa-Nerz-Krimi wieder ein provokantes Stück Literatur gelungen. Nach seiner Lektüre schaut man die Fleischpakete im Supermarkt jedenfalls mit anderen Augen an. Von DIETMAR JACOBSEN

Vom Vorarlberg nach Naumburg

Roman | Robert Schneider: Die Offenbarung

Nach surrealistischen Fabelwesen und historischen Figuren widmet sich der 46-jährige österreichische Erfolgsautor Robert Schneider in seinem neuen Roman einem zeitgenössischen Protagonisten. Von PETER MOHR