Wie Bonnie und Clyde

Roman | Ulrich Woelk: Mittsommertage

In der aufgestauten Hitze der Berliner Mittsommertage verdichten sich die Verwerfungen vergangener Dekaden und erschüttern manch allzu glattes Lebensarrangement. Zwischen einem unerwarteten Hundebiss, philosophische Gedanken zum Tierwohl und verdrängten Traumata können mehrere Wahrheiten liegen. Ulrich Woelks aktueller Roman wirbelt alle Gewissheiten durcheinander. Von INGEBORG JAISER

Die Mittfünfzigerin Ruth Lember hat fast alles Erstrebenswerte erreicht: eine Professur an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität, eine langjährige Beziehung zum ebenfalls erfolgreichem Architekten Ben, eine aufgeweckte Ziehtochter, der sie die bessere Mutter sein kann – und nun auch noch die Berufung in den Deutschen Ethikrat. Perfekter könnte der Sommer 2022 in Berlin nicht sein, in dem sich das soziale und kulturelle Leben nach dem Abflauen der Coronapandemie wieder nach allen Seiten öffnet. So startet Ruth mit Tatkraft, Energie und Zuversicht in eine neue Woche. Die sommerlichen Schwüle treibt sie weit vor dem Weckerklingeln auf die Beine. »Sie ist wach, und die Kräfte ihres Körpers und ihres Geistes wollen sich nicht mehr in die Müdigkeit zurückdrängen lassen. Und sie selbst will das auch nicht. Sie hat Lust auf diesen Tag und die vor ihr liegende Woche.«

Sieben Tage im Hochsommer

Über sieben Tage, von Montag bis Sonntag, erstreckt sich Ulrich Woelks neuer Roman. Sieben Tage in der hitzigen Urbanität Berlins, sieben Tage, die ein arriviertes Leben aushebeln, auf links drehen und komplett in Frage stellen werden. Vermeintlich durch ein Missgeschick zum Wochenbeginn – oder eher durch eine kausale Kumulation unglücklicher Umstände, die nur ein erfahrener Autor wie Woelk so stimmig und doch scheinbar zufällig aufeinander folgen lassen kann? Erwartbares und Unerwartetes, Privates und Politisches haben sich schon in seinen letzten beiden Romanen Der Sommer meiner Mutter (2019) und Für ein Leben (2021) wundersam vermengt.

So vermag auch die Ethik-Professorin Ruth ihr Privatleben nicht vom Zeitgeschehen abzukoppeln, trotz angestrengt bemühter Korrektheit. Als sie beim morgendlichen Joggen von einem nicht angeleinten Hund gebissen wird, versäumt sie es, den Namen der Halterin zu notieren oder gar von ihrem professionellen Habitus abzuweichen (»Weder als Streitende noch als Anklagende oder Beschwichtigende sieht sie sich in einer akzeptablen Rolle«). Doch es kommt, wie es kommen muss: Die Wunde schmerzt und entzündet sich, so dass ein Abend in der Notaufnahme und ein hochdosiertes Antibiotikum unabwendbar werden. Damit ließen sich die durchgetakteten Termine der kommenden Tage vielleicht überstehen, wenn sich nicht Spuren der sorgsam verdeckten Vergangenheit zwischen das Geschehen drängen würden.

Pamphlete und Proteste

Unvermutet, aber augenfällig wie ein Stalker taucht der alte Jugendfreund und Kommunarde Stav auf. Und mit ihm fast vergessene Erinnerungen an die 80er Jahre, die von David-Bowie-Songs und französischen Rotwein erzählen, aber auch von der Anti-AKW-Bewegung und heftigen Protesten. Die praktische Begabung Stavs und das sprachliche Formulierungsgeschick Ruths machten die Beiden zum perfekten Gespann – wie Bonnie und Clyde. Ungut nur, dass noch von Ruth verfasste Bekennerschreiben und Pamphlete existieren, ganz abgesehen von Rückblicken an einen missglückten Sabotageakt.
Eine Veröffentlichung der Papiere, einen anaphylaktischen Schock, einen Autounfall später ist Ruths sorgfältig kuratiertes Leben vollkommen aus dem Lot gewuchtet. Verbindlichkeiten und verlässliche Konstanten sind ins Wanken geraten. Die unnahbare, unangreifbare Erscheinung einer Ethik-Professorin hat tiefe Risse bekommen. Vorzüglich übersetzt das Cover des Buches diesen transluzenten Zustand in eine visuelle Bildsprache, das Schillernde, Wacklige, unscharf Überlagernde und sich Spiegelnde.

Dem 1960 geborene Schriftsteller Ulrich Woelk gelingt in Mittsommertage eine geschickte Verquickung des Lebensgefühls der 80er und 90er Jahre mit den brennenden Themen und ethischen Fragestellungen der Gegenwart. Darunter die Erkenntnis, dass die Letzte Generation nicht die erste ist, die mit ihren Protestaktionen für erhebliches Aufsehen sorgt. Doch nachdem sich die Stimmung während den steigenden Temperaturen der Mittsommertage bis zum Unerträglichen aufheizt, kippt sie nach der Sonnenwende ins überraschend Seichte ab. Der allzu versöhnliche, friedvolle Schluss des Romans mag manchen Leser irritieren. Doch wer weiß schon, was der neue Tag, die neue Woche bringen wird? Die Hundstage sind nicht fern.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Ulrich Woelk: Mittsommertage
München: C. H. Beck 2023
283 Seiten. 25 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Ulrich Woelk in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Kunst des Wünschens

Nächster Artikel

Kaukas lustige Tiere

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Kontinent der Musik und Freiheit

Roman | Sylvain Prudhomme: Ein Lied für Dulce In seinem bewegenden Roman ›Ein Lied für Dulce‹ befasst sich der französische Schriftsteller Sylvain Prudhomme mit der legendären Band Super Mama Djombo und einem Stück portugiesischer Kolonialgeschichte. BETTINA GUTIERREZ hat ihn hierzu befragt.

Die Heiterkeit des Unerträglichen

Roman | Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns »Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte«, bekennt der namen- und alterslose Ich-Erzähler im neuen Roman aus der Feder von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino und funkt damit auf der gleichen emotionalen Frequenz wie die meisten Protagonisten aus den Vorgängerwerken. Über den neuen Roman von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino Außer uns spricht niemand über uns – von PETER MOHR

Short Cuts

Roman | Laetitia Colombani: Der Zopf Der Erstlingsroman der französischen Schauspielerin und Regisseurin Laetitia Colombani wurde gleich in 28 Sprachen übersetzt, steht seit Monaten auf den Bestseller-Charts und betört durch sein türkis-goldenes Cover. Doch hält Der Zopf sein lockendes Versprechen? Von INGEBORG JAISER

Heimweh nach Historie

Roman | Jan Brandt: Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt Eine drängende soziale Frage unserer Zeit lautet: wo können wir, wie wollen wir leben? Angesichts der existenziellen Bedeutung des Wohnens hat der Schriftsteller Jan Brandt erneut seinen großen geplanten Auswandererroman vertagt und gleich zwei Bände in einem dazwischengeschoben. Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt birgt das ganze Ausmaß an Zerrissenheit zwischen einem entgleisten Immobilienmarkt und der eigenen Identitätssuche. Von INGEBORG JAISER

Die Stunde der Raketen

Roman | Robert Harris: Vergeltung

Man schreibt den November des Jahres 1944 und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Krieg jene besiegt, die ihn fünf Jahre zuvor begonnen haben. Doch Hitlers Deutsches Reich wähnt sich noch im Besitz einer Waffe, mit deren Hilfe alles anders kommen könnte. Die V2-Raketen sollen das Schicksal Deutschlands in letzter Minute wenden. Von mobilen Abschussrampen gen England geschickt, sind sie erst zu orten, wenn es längst zu spät ist. Eine Möglichkeit der Gegenwehr gibt es allerdings: die Startplätze der Raketen unmittelbar nach deren Abschuss unter Feuer nehmen. Doch wie soll man die finden? Von DIETMAR JACOBSEN