Anders und doch ähnlich

Roman | Maxim Biller: Mama Odessa

»Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.« Mit diesem Satz eröffnet Maxim Biller seinen äußerst facettenreichen, stark autobiografischen Roman Mama Odessa, der um eine komplizierte, aber liebevolle Mutter-Sohn-Beziehung und um das Gefühl des Fremdseins kreist. Von PETER MOHR

Der inzwischen 63-jährige Maxim Biller gilt seit rund drei Jahrzehnten als »enfant terrible« des deutschsprachigen Literaturbetriebs, und er inszeniert sich selbst gern als nonkonformistischer Schwimmer gegen den Strom des Zeitgeistes. Zunächst mit seiner Kolumne »100 Zeilen Hass«, später mit seinem Roman Esra (2003), der wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten die Justiz beschäftigte und dann in jüngerer Vergangenheit auch als wütender Dauerpolemiker in der zweiten Generation des »Literarischen Quartetts« im ZDF. Jetzt ist sein neuer, nur etwas mehr als 200 Seiten umfassender und doch sehr komplexer Roman Mama Odessa erschienen – entgegen Billers vor gut einem Jahr in der ZEIT getätigten Aussage wegen des Ukraine-Kriegs nicht mehr schreiben zu wollen.

Ja, es wird wieder Stimmen geben, die Biller vorwerfen, dass er stets an seinem Leben entlang schreibt. Er bedient sich zwar eines Grundgerüsts seiner Familienbiografie, doch die wechselnden Perspektiven eröffnen immer wieder neue Einblicke und geben den Figuren andere »Gesichter«.

Die jüdische Familie Grinbaum aus dem vorliegenden Roman übersiedelte Anfang der 1970er Jahre von Odessa nach Hamburg. Auslöser war ein mysteriöser Giftgasanschlag. Vater Gena zog es eigentlich nach Israel und Mutter Aljona wollte eigentlich in der Sowjetunion bleiben. Ein Leben als Kompromisslösung. Sohn Mischa, der Maxim Biller sehr ähnlich ist, war bei der Ausreise ein Schulkind, Jahrzehnte später ist er ein erfolgreicher Schriftsteller und berichtet (assoziativ) über sein Leben und vor allem über das Verhältnis zu seiner Mutter.

Der fiktiv-autobiografische Mischa ist eine typische Biller-Figur, ein Mensch so wandlungsfähig wie ein Chamäleon – mal kühl und abweisend, mal arroganter Besserwisser und bissiger Polemiker, dann aber auch ein introvertiert-verletzliches »Seelchen«.
Mit Mutter Aljona, die an der Uni arbeitete, wurde Mischa im Hamburger Grindelviertel groß. Der Vater hatte die Familie wegen einer anderen Frau (von der Mutter als »Nazi-Hure« beschimpft) verlassen und lebte im Stadtteil Othmarschen.

Mutter Aljona hat sich in Hamburg nie wirklich heimisch gefühlt. Mit siebzig hat sie ihren einzigen Roman geschrieben. Auch Maxim Billers 2019 verstorbene Mutter, die Geografin und Schriftstellerin Rada Biller, hat sich an ihrer eigenen Vita literarisch abgearbeitet.
Die Roman-Mutter Aljona schreibt zahlreiche Briefe an Mischa, die meisten sind nicht abgeschickt worden und erst nach ihrem Tod entdeckt. So entsteht unter Billers feiner Federführung eine latente Liebeserklärung an die Mutter – sinnlich, emotional, von beinahe fühlbarer spürbarer Zärtlichkeit. Vieles zwischen Mutter und Sohn blieb unausgesprochen, offensichtlich gab es trotz aller Zuneigung eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen. Sie waren sich nah und fremd gleichzeitig. »Bei uns war alles ganz anders, aber auch irgendwie ähnlich.«

Eine leicht melancholische Hintergrundmusik begleitet uns bei der Lektüre. Schließlich geht es für Mutter Aljona zeitlebens auch um den Verlust der Heimat, ein bisweilen irrational anmutendes Gefühl der Fremdheit war in Hamburg ihr Dauerbegleiter. Kein Wunder, dass sie sich in ihren letzten Lebensjahren von Russinen und Ukrainerinnen pflegen ließ.

Es dreht sich in diesem Mutter-Sohn-Buch auch ganz viel um Literatur, ums Schreiben und um die damit verbundenen Hoffnungen – letztlich aber auch um die Desillusionierung und Ohnmacht von Autoren. Biller nimmt dabei konkret Bezug auf große Namen wie Philip Roth, Heinrich Böll und Anna Achmatowa.

Mama Odessa liest sich wie eine hoch emotionale, posthume Annäherung von Mutter und Sohn – mal mit tragisch-komischen Zügen, mal verzweifelnd und flehend, aber auch mit heiteren Sequenzen. Nähe und Fremde (nicht nur im geografischen Sinn) stehen bei Biller im Mittelpunkt. »War ich überall zuhause – oder nirgendwo?«

| PETER MOHR

Titelangaben
Maxim Biller: Mama Odessa
Köln: Kiepenheuer und Wisch 2023
233 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Maxim Biller in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die wahre Tochter Südafrikas

Nächster Artikel

Ein Freundebuch

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Trauer ist wie ein Schatten

Roman | Peter Zantingh: Nach Mattias

Was macht das Wesen eines Menschen aus? Was bleibt zurück, wenn er nicht mehr da ist? In seinem neuen Roman Nach Mattias nähert sich der niederländische Autor Peter Zantingh leichtfüßig, aus verschiedenen Blickwinkeln und doch auf einfühlsame Weise einem sehr elementaren Thema an. Von INGEBORG JAISER

Zeit zu trauern

Jugendbuch | Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch Die Selbsttötung eines Familienmitglieds ist unverändert ein gesellschaftliches Tabu, was den Umgang damit enorm schwierig macht. Erwachsene z.B. halten Erschrecken und Schmerz im Zaum, indem sie das Ganze rasch abtun. Jugendliche trifft es mitten in ihrer Schutzlosigkeit. Wenn sie dem Verhalten der Erwachsenen folgen, sind sie verloren, denn sie bekommen keine Zeit zu trauern. Die niederländische Autorin Erna Sassen erzählt davon in ihrem Debütroman ›Das hier ist kein Tagebuch‹. Von MAGALI HEISSLER

Kriminelle Spediteure

Roman | David Schalko: Schwere Knochen David Schalko genießt bei unseren südöstlichen Nachbarn so etwas wie Kultstatus. Für Josef Hader hat er nicht nur den Habitus eines Genies, sondern ist auch eines, andere sehen in dem heute 45-jährigen Wiener ein »Phänomen« und einen »Kreativgeist«, der dem Fernsehen neue Impulse verliehen hat. Jetzt ist mit ›Schwere Knochen‹ Schalkos vierter und bislang umfangreichster Roman erschienen. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Liste der listigen Morde

Roman | Peter Swanson: Acht perfekte Morde

Malcolm Kershaw ist der Mitinhaber einer kleinen, auf Krimis spezialisierten Buchhandlung in Boston. Er gilt als Spezialist für raffinierte Morde und deshalb ist es kein Wunder, dass sich das FBI bei ihm meldet und um Rat fragt, als einer belesenen Mitarbeiterin auffällt, dass ein paar Gewaltverbrechen in letzter Zeit berühmte Kriminalromane von Agatha Christie bis Donna Tartt zu kopieren scheinen. Natürlich hilft Kershaw gern, zumal FBI-Agentin Glen Mulvey alles andere als unattraktiv ist. Der Mann, dessen Frau vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, weiß allerdings so viel über perfekte Morde, dass er bald selbst zu den Verdächtigen gezählt wird. Von DIETMAR JACOBSEN

Keine Pause, keine Ruhe, keine Kraft

Roman | Lukas Bärfuss: Die Krume Brot

»Welchen Faden ich auch immer aufnehme, hinter der nächsten oder spätestens der übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab«, hatte der 52-jährige Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss in seiner Dankesrede erklärt, als er 2019 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Soeben ist sein neuer Roman Die Krume Brot erschienen. Von PETER MOHR