Was macht das Christkind an Heiligabend? Wohin treiben all die nächtlichen Gestrandeten in einer Großstadt? Worin verwandeln sich die Geister von Kafka, Hašek und Hrabal? Jaroslav Rudiš´ Weihnachten in Prag ist eine stimmungsvolle Liebeserklärung an die Moldaumetropole und ein modernes Märchen, das anrührt, ohne von falscher Rührseligkeit getrübt zu werden. Von INGEBORG JAISER
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš gilt als passionierter Bahnfahrer und bekennender Biertrinker – zwei prägende Leidenschaften, die er gerne auch den Figuren seiner Bücher angedeihen lässt. So wie Jára, dem Ich-Erzähler seiner neuesten Geschichte, den es an Heiligabend mit dem Zug aus Berlin an den Prager Hauptbahnhof spült. Eigentlich will er sich hier mit Freunden treffen, ehe er am ersten Weihnachtsfeiertag zu seiner Familie ins Böhmische Paradies (das gibt es wirklich!) weiterreist, zu Geschenken und gebackenem Karpfen. Als sich keiner der Freunde meldet, lässt sich Jára einfach durch die Stadt treiben, trifft auf andere Nachtgestalten und Gestrandete, auf Einheimische, Durchreisende, Melancholiker. An der nächsten Ecke findet sich immer eine Kneipe – oder eine neue Überraschung.
Die Geister der toten Dichter
Diese Nacht ist wie geschaffen für wundersame Begegnungen, mit dem »König von Prag«, der Schlüssel für die ganze Stadt besitzt oder der Italienerin aus Mailand, die ihrem verstorbenen Freund nachtrauert, der als Straßenbahnfahrer wohl gerne die Linie 22 hoch zur Prager Burg gesteuert hätte. Die Geister von Kafka, Hašek und Hrabal liegen als literarische Reminiszenzen ohnehin in der Luft, unsterblich und allgegenwärtig. Doch ist es wahr, dass sich hier die toten Dichter in Vögel verwandeln? »In Tauben, in Krähen, in Möwen, manchmal auch in Turmfalken«, wie es uns Weihnachten in Prag einzuflüstern versucht?
Was wäre diese moderne Weihnachtsgeschichte ohne die außergewöhnlichen Illustrationen von Jaromir 99 (alias Jaromír Švejdík) – klar konturiert, holzschnittartig und eine unverwechselbare Ausstrahlung entfaltend? Mal ziehen sich weite Stadtpanoramen über eine Doppelseite, mal zieren munter verspielte Vignetten (umherflatternde Krähen, rotäugige Karpfen, eine warm leuchtende Straßenlaterne) die Seitenränder oder einen neuen Abschnitt. Dies ist nicht das einzige Gemeinschaftsprojekt der beiden Freunde, spürt man. Seit sich Rudiš und Švejdík vor 25 Jahren im Lokal »Zum Ausgeschossenen Auge« (ja, auch das existiert wirklich) kennengelernt haben, hecken sie mit leidenschaftlicher Verve gemeinsame künstlerische Konzepte aus, wie eine Graphic Novel um den Fahrdienstleiter Alois Nebel oder die zuweilen auch in Deutschland auftretende Kafka Band (gleich im Januar 2024 im Stuttgarter Literaturhaus).
Modernes Weihnachtsmärchen
Natürlich geht längst nicht alles mit rechten Dingen zu, in diesem beschwingten Weihnachtsmärchen für Erwachsene, das sich auch hervorragend zum gegenseitigen Vorlesen eignet. Nach vielen kleinen Wundern endet die Geschichte an der schönsten Kathedrale Prags: dem Hauptbahnhof, über dessen nächtlichen Glanz Jaromir 99 dicke weiße Schneeflocken wirbeln lässt. Und das Christkind? Das trinkt »hier mit uns ein Glas Bier. Ein kleines. Und dann steht das Christkind auf und sagt: Wir sehen uns in einem Jahr wieder. Und steigt in die Straßenbahn, und weg ist es.« Zurück bleibt ein herzerwärmendes Buch für alle Prag-Fans, Weihnachts-Enthusiasten, Eisenbahn-Liebhaber und Freunde expressionistisch angehauchter Illustrationen.
Titelangaben
Jaroslav Rudiš: Weihnachten in Prag
Mit Illustrationen von Jaromir 99
München: Luchterhand 2023
91 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe