Grenzerfahrungen

Krebs ist eine für Kinder schwer fassbare Krankheit. Was soll man sich unter kranken Zellen vorstellen, die jemand im Körper hat? Nein, Krebs hat nichts mit dem gleichnamigen Tier zu tun, das man wenigstens sehen kann. Ein Bilderbuch begleitet Kinder auf dem Weg, wenn jemand in der Familie an Krebs erkrankt ist. Von ANDREA WANNER

Ein Kind und seine Mutter blicken sich an und lächeln. Die Mutter trägt ein KopftuchAlles, was Kinder über Kranksein und Krankheiten wissen, passt hier nicht: kein Husten, kein Schnupfen, kein Bauchweh, kein gebrochener Arm, kein Bein in Gips. So ist Hennie auch sehr überrascht, als Mama ihr auf dem Spielplatz von der Krankheit erzählt und davon, dass es wohl auch ziemlich lange dauern wird. Mama sieht aus wie immer, ist wie immer, nur vielleicht ein bisschen müder. Aber das ist er der Anfang. Das Mädchen sieht die Bestürzung der anderen Erwachsenen, erlebt deren Sprachlosigkeit, wo die richtigen Wörter fehlen.

Mama hört auf zu arbeiten, geht ins Krankenhaus, wo sie wöchentlich Medizin bekommen. Medizin, die es in Hennies Augen nicht besser macht, sondern Mama alle Kraft raubt, ihren Appetit, ihre Haare. Alles verschwindet – und dann »Mama selbst«.

Tante Gerda holt Hennie von der Kita ab, daheim mahnt Papa, Hennie solle leise sein und sie ist nur noch wütend.

Ganz nah an der kindlichen Wahrnehmung einer Diagnose und Therapie, die auch uns Erwachsene oft genug rat- und mutlos zurücklässt, begleitet Julia Rosenkranz ein kleines Mädchen durch diese schwere Zeit, wo gefühlt die zentrale Person in ihrem Leben unsichtbar wird. Sie spricht die Krankheit an, fasst Hennies Gefühle in Worte, lässt das Kind selbst zu Wort kommen. Nele Palmtag findet treffende Bilder dazu, pastellig mit kräftigen Akzenten.

Es gibt düstere Szenen und helle, leuchtende Lichter, wie die der gelben Blüten auf dem Cover. Sie lässt Wutausbrüche nachvollziehbar werden, wirft einen Blick in das Zimmer im Krankenhaus, das für Kinder tabu ist, in dem die ambulante Chemotherapie stattfindet, zeigt die kahl gewordene Mutter so, dass Hennies Assoziation, siehe sähe aus wie Opa, verständlich wird. Es ist eine schwere Zeit, für alle. Das Bilderbuch hilft Kindern, sie ein bisschen besser zu verstehen und macht Mut und Hoffnung.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Julia Rosenkranz: Als Mama einmal unsichtbar war
Illustriert von Nele Palmtag
Leipzig: Klett Kinderbuch 2023
32 Seiten. 16 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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