Station Johannes

Roman | Markus Berges: Irre Wolken

›Irre Wolken‹ ziehen über die westfälische Provinz und werfen ihre Schatten über prägende Ereignisse zwischen verbotener Liebe und wahnsinnigem Glück. Nicht nur die Gefühle spielen verrückt im Leben eines 19-jährigen Aushilfspflegers in der Psychiatrie. Markus Berges, Sänger und Songschreiber der Band Erdmöbel, erzählt in seinem dritten Roman eine Coming-of-Age-Geschichte aus unruhigen Zeiten. Von INGEBORG JAISER

Jede Gegend verfügt über ein griffiges Kürzel für die regionale psychiatrische Einrichtung – einem Ort, mit dem man gerne Kindern und Unangepassten droht, falls sie aufsässig werden sollten. Das gilt für Bedburg-Hau am Niederrhein, Hirsau im Nordschwarzwald und in Markus Berges neuem Roman für das (fiktive?) Hülle, das nicht nur phonetisch nah bei der Hölle angesiedelt ist. Zumindest wie das Fegefeuer fühlt es sich für den 19-jährigen etwas moppeligen, leicht verschüchterten Protagonisten an, der als FSJler gleich in der geschlossenen Abteilung dieser kirchlichen Einrichtung gelandet ist. Ein Setting wie zwischen ›Einer flog über das Kuckucksnest‹ und Meyerhoff´schen Kindheitserinnerungen.

Liebe auf den ersten Blick

Beamen wir uns gedanklich zurück in die 1980er Jahre. Man trägt noch Frotteeschlafanzüge, knipst analog, kompiliert Mixtapes und rockt zu Falcos Amadeus. Doch der etwas ungelenke, übergewichtige Ich-Erzähler mit dem kuriosen Nickname »Kuli« (die Gründe erfahren wir erst später in plötzlicher Aha-Erkenntnis) erlebt 1986 den Sommer seines Lebens. Am Ende hat er 15 Kilo verloren – und seine Unschuld. Über allem schwebt das Unheil des Reaktorunfalls in Tschernobyl. Und eines Tages wird Anne Schmidt in der Geschlossenen eingeliefert: geschätzt Mitte Zwanzig, Ex-Waldorfschülerin, Fotodesign-Studentin, Supertramp-Fan und zudem noch an Schizophrenie erkrankt. »Ordentlich Wahnspannung«, doch zugleich auch eine »ungewöhnliche Krankheitseinsicht«, befinden die Ärzte. Kuli hingegen diagnostiziert »Liebe auf den ersten Blick, mit der ich fest rechnete, wenngleich nicht hier, wo ich Putzmann war und Spielgefährte von Gespenstern.«

Es folgt eine nicht alltägliche Annäherung, dann gemeinsames Ausbüxen und eine unvergessliche Zeit am fiktiven Lagerfeuer an den nur mäßig romantischen Gestaden der Ems. Der zeitgleiche Fallout nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl sorgt für bitzelnde Unruhe und Unsicherheit, auch wenn Kuli gerne glaubt: »Kiew war von Westfalen weit weg, und der Wind blies alles zurück hinter den Eisernen Vorhang, hatte zumindest meine Mutter gesagt.«  Anne erfährt im selbst gewählten Freigang vielleicht die beste Zeit ihres Lebens, obschon das abrupte Absetzen der Medikation einen neuen Krankheitsschub – und ihr plötzliches Verschwinden – förmlich vorprogrammiert. Schnell noch ein paar verliebte Momentaufnahmen mit der Kodak Instamatic, denkt sich Kuli. Doch die Prognose für ein Happy End erscheint eher unwahrscheinlich.

Poetischer Sound

Markus Berges, ebenso studierter Germanist wie Sänger und Songschreiber der Band Erdmöbel, untermalt diese ungewöhnliche (und insgeheim verbotene) Liebesgeschichte mit poetischem Sound, als wäre es ein Songtext. Mit sparsamen Worten, die punktgenau eine Atmosphäre einfangen, breitet er das Lebensgefühl einer ganzen Generation vor uns aus. Wie beim Kauf der ersten Jahreskarte für das örtliche Schwimmbad: »Der Bademeister schloss uns teilnahmslos auf. Und es begannen Tage wie Jahre.« Doch im leichthin verspielten Ton ahnen wir schon die Flüchtigkeit des jugendlichen Glücks. Am Ende zerplatzen alle Träume, denn nicht mal die Bilder lassen sich festhalten. Als Kuli geraume Zeit nach Annes Verschwinden im Seifenplatz (für die Spätgeborenen: der skurrile Name einer längst nicht mehr existenten Drogeriemarktkette) die entwickelten Fotos aus seiner Kodak Instamatic abholen will, ist die Hälfte des Filmes schwarz. Einfach nicht belichtet.

Bereits zwei viel beachtete Romane hat Markus Berges bei Rowohlt veröffentlicht. Doch nach ›Ein langer Brief an September Nowak‹(2010) und ›Die Köchin von Bob Dylan‹(2016) dürfte sein neuestes Werk autobiographisch geprägt sein wie kein anderes zuvor, zugleich so vom Zeitgeschehen unterlegt, dass man daraus ein eigenes Mixtape der 1980er Jahre erstellen könnte. In gelungener Verschmelzung von Erdmöbel-Songs und Roman-Sujets lauscht man gerne noch einmal der Busfahrt (aus dem Album ›Altes Gasthaus Love‹), die im gleichen klinischen Umfeld wie ›Irre Wolken‹ angesiedelt ist: »Augen, Busen, Pullover, Po, Hose, Haar, in dieser Reihenfolge.« Markus Berges‘ Auftritt auf der diesjährigen ›lit. Cologne‹ im März 2024 ist schon längst ausverkauft.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Markus Berges: Irre Wolken
Berlin: Rowohlt 2024
284 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Markus Berges in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Glückliche Kindheit

Nächster Artikel

Heim auf vier Rädern

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Auf Heimatsuche

Roman │ Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt Kann es für jemanden, der nirgendwo Akzeptanz findet, der nicht weiß, wie das gesellschaftliche Bild zu dem eigenen Selbstbild passt, der zu selbstreflektiert ist, um sich unter eine Maske zu begeben, möglich sein, eine Heimat zu finden? Diesen Fragen geht Olga Grjasnowa in ›Der Russe ist einer, der Birken liebt‹ nach. 2012 veröffentlichte die heute 31-Jährige ihren Debütroman und greift Themen auf, die an Aktualität keinen Deut verloren haben. TOBIAS KISLING über ein außergewöhnliches und deprimierendes Werk eines literarischen Nachwuchstalents.

Anders und doch ähnlich

Roman | Maxim Biller: Mama Odessa

»Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.« Mit diesem Satz eröffnet Maxim Biller seinen äußerst facettenreichen, stark autobiografischen Roman Mama Odessa, der um eine komplizierte, aber liebevolle Mutter-Sohn-Beziehung und um das Gefühl des Fremdseins kreist. Von PETER MOHR

Asche in zwei Urnen

Roman | Urs Faes: Untertags

»Ein Kuvert enthielt alles, was er verfügte. Was sie schmerzte. Was sie hinnahm und nicht begreifen konnte«, heißt es im bewegenden Roman des Schweizer Autors Urs Faes. Die Apothekerin Herta sichtet den Nachlass ihres verstorbenen, langjährigen Lebensgefährten Jakob, den sie in einem schleichenden Prozess verloren hat. Die Demenz hat ihn auf für Herta äußerst schmerzhafte Weise peu à peu aus dem Alltag verschwinden lassen. Von PETER MOHR

Foul Play

Jugendbuch | Kerstin Gulden: Fair Play

Umweltschutz ist ein Thema, das uns alle angeht. Und die »Fridays-for-Future«-Bewegung hat gezeigt und zeigt, wie sehr sich viele junge Menschen damit auseinandersetzen und motiviert sind, etwas für das Klima und die Zukunft zu tun. Und an dieser Stelle beginnt der packende Roman von Kerstin Gulden. Von ANDREA WANNER

Leg dich nicht mit den Wheelers an!

Roman | Richard Osman: Wir finden Mörder

Vier Bände umfasst gegenwärtig jene Romanreihe, mit der Richard Osman weit über die Grenzen seiner britischen Heimat hinaus bekannt wurde, den Fällen des Donnerstagsmordclubs. Ist viermal schon genug? Offensichtlich nicht, denn ein fünfter Band rund um die vier Damen und Herren, die sich von ihrer komfortablen Seniorenresidenz Coopers Chase aus so gern in das Handwerk der Polizei einmischen, soll bereits im nächsten Jahr erscheinen. Aber gelegentlich braucht man halt ein bisschen Abwechslung. Und so liegt mit Wir finden Mörder jetzt der erste Band einer neuen Serie vor. Und auch der dürfte nicht lange ohne Fortsetzung bleiben. Von DIETMAR JACOBSEN