//

Zukunft

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zukunft

Wir müssen dem Einhalt gebieten!, rief Sut. Empört euch!

Das fängt ja gut an, sagte Mahorner.

Ob das nicht eine Parole von gestern sei, wandte LaBelle ein.

Ich höre ihm gern zu, sagte Pirelli.

London lachte. Sind wir alle angeschlagen von unserer Ausfahrt heute Morgen?

Der Teufelsfisch ist doppelt so lang wie unsere Schaluppe, sagte Bildoon, er hat uns zugesetzt, da ist es erholsam, von Sut unterhalten zu werden.

Eldin faßte sich an die schmerzende Schulter.

Er hat eine angenehme Stimme, sagte der Ausguck.

Eldin lachte. Hat sich unser Neuling eingewöhnt?

Ich war auf Schlimmeres gefaßt, Sir, wir Walfänger haben nicht den besten Ruf in der Stadt.

Warte nur ab, bis es erneut auf Walfang geht, sagte London.

Respektlos ist er, sagte Bildoon, und nimmt kein Blatt vor den Mund.

So ist es richtig, sagte Sut, wir müssen uns gegen eine Zukunft wappnen, die dem Menschen feindlich begegnen wird.

Das mußt du erklären, Sut, verlangte Bildoon.

Das Lebendige wird erstickt, verstehst du?

Wie soll ich das verstehen? Wird es keine Wale geben?

Das wird nicht das Schlimmste sein.

Nicht?

Das Leben, wie wir es kennen, Bildoon, wird sich zurückziehen. Noch gründet es auf dem Gleichgewicht der Kräfte, der Planet ist für alle Lebewesen bestimmt. Der Mensch jedoch kolonisiert den Planeten, er läßt keinen Raum für andere, ja nicht einmal für seinesgleichen.

Das ist mir zu hoch, Sut.

Richte nur den Blick auf die Stadt Frisco, sagte Sut, da ist es offenkundig.

Er meint die weißen Immigranten, von denen die Ureinwohner verdrängt   werden?

Das nimmt kein Ende, ja, sagte Sut, zuerst waren es Spanier, die die Völker Mittelamerikas unterwarfen, ihnen folgten Franzosen, Briten und andere. Für sie ist das ihre Neue Welt, und auch in der Mannschaft der ›Boston‹ stammen die meisten aus eingewanderten Familien, wir sind zweite und dritte Generation, etabliertes Volk – unser Commandeur hat einen Bruder in Chicago, der Zeitungen verlegt, ein Mann mit politischem Einfluß, sein zweiter Bruder ist Professor für Mathematik – die weißen Männer betrachten dieses Land als ihren persönlichen Besitz.

Und, fragte London, habe er daran etwas auszusetzen.

Es werde kein Ende nehmen – das gibt es daran auszusetzen, entgegnete Sut, sie sind unersättlich, man muß ihnen Einhalt gebieten.

Touste spielte einige Akkorde auf seiner Gitarre.

Die Dämmerung brach an.

Die Einführung der Dampfschiffahrt, heißt es, sagte London, sei eine Revolution, ein technologischer Fortschritt, der den Frachtverkehr kalkulierbar mache.

Der Dampfer, ergänzte Harmat, trifft an feststehenden Tagen ein,  Fahrpläne werden ausgehängt, Wartezeiten fallen aus, dadurch werden die Geschäfte erleichtert.

Crockeye lachte. Time is money.

Wir werden betrogen, erklärte Sut, die Agenturen schweigen sich aus über die realen Kosten der Dampfschiffahrt. Sofern der Wind die Schiffe führt, liegen die Betriebskosten, abgesehen von der Heuer, nahe bei Null, versteht ihr? Das Dampfschiff verlangt nicht allein den laufenden Betrieb, sondern es zieht Folgekosten nach sich.

Wie das? Folgekosten?

Das Dampfschiff muß mit Kohle geheizt werden und plündert die Schätze des Planeten, es vergiftet die Luft, die wir atmen. Das Segelschiff dagegen balanciert auf den Winden, und die Winde lassen sich nicht erschöpfen – das macht einen Unterschied, den niemand wahrhaben will, versteht ihr, niemand redet darüber, und welche Gründe gab es, daß die Segler durch Dampfer ersetzt wurden?

Pirelli lachte verächtlich. Die unausrottbare Mär von Wachstum und von Fortschritt, sagte er.

Wie können wir das wissen, fragte Bildoon: Du machst mir Angst, Sut, sag‘ es uns!

Niemand weiß es, sagte der Ausguck, das ist die Zukunft. Nein, ergänzte er, die Zukunft ängstigt mich nicht.

Da ist er wieder, der vorlaute Bengel, sagte Pirelli: Wer hat uns den auf die ›Boston‹ geholt? Er kommt von der Walstation, nicht wahr? Hat ihn dortt jemand gekapert?

Laß gut sein, mahnte London, es will Abend werden und friedlich und still.

Sut lachte.

Der Ausguck stand auf, tat einige Schritte und war von der Dunkelheit verschluckt.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

 

II.

Der Ausguck blickte auf. Was geschieht, wenn es dunkel wird und die Welt sich zurückzieht? Was geschieht?, fragte er.

Nichts, entgegnete Bildoon und lachte: Gar nichts geschieht. Es wird halt dunkel. Die Sonne geht unter, das geschieht.

Der Ausguck schwieg verblüfft.

Eldin faßte sich an die Schulter.

Pirelli runzelte die Stirn.

Sut sah nachdenklich auf den Ausguck. Wie alt mochte er sein? Vierzehn? Zwölf? Ein aufgewecktes Kerlchen.

London drehte sich zur Seite, er war müde, der Tag war lang gewesen.

Unmöglich, nein, entgegnete der Ausguck: Wie solle denn die Sonne untergehen? Wie stelle er sich das vor?

Thimbleman lächelte.

LaBelle hätte gern eine Kleinigkeit gegessen.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Bildoon schwieg.

Die zehntausend Dinge verlassen uns, sagte der Ausguck, das sei die Wahrheit, davor habe er Angst. Nicht allein daß sie sich im Dunkel auflösen würden, sondern der Schlaf ergreife Besitz vom Menschen und entführe ihn in unbekannte Gefilde.

Wie, er entführe ihn, entgegnete Bildoon, er habe davon bislang nichts bemerkt. Er lachte. Bei Sonnenaufgang sei er noch stets dort aufgewacht, wo er eingeschlafen sei.

Dem Unsinn müsse ein Ende gesetzt werden, unterbrach Sut.

Der Ausguck stand auf, tat einige Schritte und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

Auf See? Sut sei ein mitreißender Erzähler, sagte London, doch man müsse ihm nicht alles glauben. Oder?

Es gibt den Tag, sagte Sut.

Er redet schon wie Termoth. Selbstverständlich gibt es den Tag.

Nein, London. Nicht selbstverständlich. Der Tag ist ein Geschöpf, ein Halbwesen wie der Wind, wie die Stimme, wie der Duft, wie der Sommer, er wandert über den Planeten.

Das wäre mir neu, spottete Bildoon.

Das Morgengrauen ist sein Aufbruch, und alles Gelände, das er hinter sich zurück läßt, versinkt in der Dämmerung. Den Winter über ist er kürzer, ihm bleibt weniger Zeit.

Der Ausguck tauchte wieder auf und setzte sich.

Was hatte sich der bloß immer mit seinem Salto, fragte sich Crockeye.

Mit der Nacht wäre es umgekehrt?

So ist es, Harmat, mit der Nacht ist es umgekehrt. Der Mensch versteht all das nicht, er mißt die Zeit, er zählt die Tage und schafft sich eine eigene Welt, er unterwirft sich dem, was er Fortschritt nennt. Er versteht die Zusammenhänge nicht, er rechnet und zählt und hat null Ahnung von den  Abläufen. Er fürchtet die Nacht, er schafft künstliches Licht, in seinen Städten macht er die Nacht zum Tage.

Soll er die Tage nicht zählen?

Er soll sie ruhig zählen, Harmat. Er fühlt sich sicher, sobald er sich in einem Gerüst von Zahlen orientiert, doch er macht sich zum Knecht seiner Zahlen. Er darf nicht vergessen, daß er lernen muß vom Tag wie von der Nacht. Seht nur, wie sanft der Tag seine Regentschaft abtritt an die Nacht, wie geduldig er der Dämmerung weicht, wie behutsam die Nacht ihrerseits die glühenden Farben des Tages auflöst und die zehntausend Dinge in wohltuendes Dunkel bettet.

Wohltuendes Dunkel? Daß ich nicht lache, entgegnete London: Die Nacht bringt quälende Träume mit sich.

Sie arbeitet daran, sagte Sut, die Lasten und Kümmernisse des hellen Tages abzulegen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Leben vor den Toren des Paradieses

Nächster Artikel

Zuviel Familie

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Vorgeblättert

Kurzprosa | Literaturkalender 2024

Wer möchte nicht gern in die Zukunft blicken? All die kommenden Freuden, Überraschungen, Begebenheiten voraussehen? Zu den Geschenken, die man sich selbst oder anderen bereiten kann, zählt immer ein Kalender für das kommende Jahr. Geschmückt mit literarischen Zitaten und anregenden Texten liegt des Leseglück schon jetzt in unserer Hand. INGEBORG JAISER stellt einige bemerkenswerte Literaturkalender vor.

Gift

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gift

Was das denn für ein Auftritt gewesen sei, fragte Farb, und wer den Breuer überhaupt eingeladen habe, sollen wir daraus klug werden und müssen wir uns abgrenzen.

Unmöglich, sagte Wette.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Farb strich die Sahne auf seinem Kuchen langsam und sorgfältig glatt.

Wette schwieg.

Aufenthalt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Aufenthalt

Am besten schicken wir ihn in einer selbstfliegenden Raumkapsel auf den ominösen Planeten 9, jenseits noch von Pluto.

Tilman lachte. Den Mars zu besiedeln, das wäre für jemanden wie ihn keine Herausforderung mehr, diesen Weirdo zieht es nach ferneren Sternen.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin. So jemand, sagte sie, wolle immer der erste sein, wer brauche ihn, für so jemanden sei das Leben ein Schlachtfeld, es gebe schwarz, es gebe weiß, und wer nicht für ihn sei, sei gegen ihn.

Ohne ihn

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ohne ihn

Mittendrin, sagte Farb, wir stecken mittendrin.

Keine Chance, sagte Wette.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wie immer das Service mit dem Drachendekor aufgedeckt, rostrot, das Tilman aus Beijing mitgebracht hatte, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war, diese Wettbewerbe, fand er, seien völkerverbindend, zumal in Zeiten wie diesen, ich komme darauf zurück.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Der Planet balanciere sich neu.

Zerbrechlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zerbrechlich

Sensible Systeme sind störanfällig.

Ist hinlänglich bekannt.

Nur daß ungern darüber geredet wird, Tilman, schon gar nicht öffentlich.

Beim Ausbruch des Vulkans Hunga-Tonga-Hunga-Ha'apai in der Südsee riß an zwei Stellen ein wichtiges Unterseekabel ein, mit dem nahezu alle digitalen Informationen einschließlich Telefon- und Internetkommunikation übertragen werden, die internationalen Verbindungen mit Tonga sind seitdem gekappt, man muß sich das ausmalen, es werde Wochen dauern, den Schaden zu beheben, ein Kabelreparaturschiff sei unterwegs, die Dinge gestalten sich kompliziert.