Wir wissen herzlich wenig, sagte Farb, doch wir bilden uns wunder was darauf ein.
Und wer weiß, ob all unser derzeitiges Wissen nicht von Grund auf irreführend ist.
Gut möglich, Tilman.
Eine neue philosophische Theorie verlangt, das Konzept von Seele gänzlich anders darzustellen, das werde massive Auswirkungen auf unser Selbstbildnis haben, der Mensch werde gleichsam neu definiert.
Interessant, sagte Annika und blätterte in ihrem Reisemagazin.
Es gehe um ein Innenweltdogma, sagte Tilman, das es aufzulösen gelte.
Und was verberge sich hinter diesem Innenweltdogma.
Die erlebte Welt des Menschen teile sich in eine Außenwelt und eine Innenwelt.
Was solle daran neu sein, fragte Farb.
Eben, sagte Tilman, sie arbeiten daran, dieses Dogma zu kippen.
Spannend, sagte Annika.
Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.
Tilman schenkte Tee ein, Yin Zhen, es war ein frühsommerlicher Nachmittag, sie hatten wie üblich das Drachenservice aufgedeckt, rostrot, sie besaßen es auch lindgrün, doch das benutzten sie selten, und reichte Farb einen Löffel Schlagsahne.
Sie eliminieren die sogenannte Innenwelt, die seit den Anfängen der Philosophie eine feste Basis unseres Menschenbildes ist, wir können sie nun vergessen, und schwupp – die Welt ist nicht mehr, was sie noch gestern war.
Farb verteilte die Sahne akribisch auf seiner Pflaumenschnitte.
Es existiere keine Seele mehr, fragte er, und ob das nicht hanebüchener Unsinn sei, wie könne er sich das vorstellen.
Doch, schon, nur daß sie weder im Gehirn noch im Herzen zu lokalisieren sei und auch sonst nirgends.
Das höre sich verwirrend an, Tilman.
Die Gefühle, so sagen sie, siedelten außerhalb des Menschen.
Im Ernst?
Im Ernst, Farb, wir reden ja selbst davon, daß wir von einem Gefühl ›berührt‹ oder ›erfaßt‹ werden, die neuen Philosophen sprechen von Atmosphären, diffusen räumlichen Gebilden, die auf den Menschen übergriffen, ähnlich wie es mit Stimmungen geschehe, verstehst du, etwa bei einer Landschaft, einer Gebirgslandschaft und der erhabenen Stimmung, die von ihr ausgehe und einen einsamen Wanderer in ihren Bann schlage, und wie besonders aussagekräftig zeige sich unsere Sprache, wenn wir sagen, daß wir uns zu einem faszinierenden Anblick ›hingezogen‹ fühlen, und man darf das exakt im Wortsinne verstehen, hier strecke sich und nähere sich uns von außerhalb ein Gefühl.
Er verstehe, sagte Farb, ja, es sei viel auf einmal, starker Tobak, doch er könne dem folgen.
Annika legte ihr Reisemagazin beiseite. Sie habe Schwierigkeiten, sagte sie, sich das vorzustellen, eine derartige Theorie werde unabsehbare Konsequenzen haben.
Unser Blick auf das Leben, sagte Tilman, sei unter den herrschenden Naturwissenschaften verödet, und bereits solche ›Halbdinge‹ wie unsere Stimme oder der Schmerz – du kannst sie eben weder zählen noch messen – stellten uns vor Rätsel, die Naturwissenschaften würden komplett versagen, die erwähnten Philosophen hingegen würden ein Gefühl als eine ›ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphäre‹ beschreiben, die außerhalb unserer eigenen Leiblichkeit existiere.
Kompliziert, sagte Farb, man müsse sich in ein derart komplexes Thema intensiv einarbeiten.
Was immer das sei, sagte Annika, der Gedanke sei gewöhnungsbedürftig, und war überzeugt, daß sie in einer vielschichtigen Zeitenwende lebe, die Dinge liefen zusammen, die Dinge liefen auseinander.
Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.
Der Autofahrer, sagte Tilman, der sich einer drohenden Unfallgefahr gegenübersehe, einer Atmosphäre höchster Bedrängnis, er müsse schnell wie ein Blitz reagieren, ›instinktiv‹, sein Organismus könne nicht, wie die Neurologie suggeriere, zunächst Sinnesdaten sammeln, sie sortieren, sich ein Bild der Lage verschaffen, eine Strategie entwerfen, Hände und Füße aufrufen, sie zweckmäßig einsetzen usw., sondern hier finde unwillkürliche, ›leibliche‹ Kommunikation statt, mit naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit sei dieser Ablauf nicht erklärbar, keineswegs.
Annika trank einen Schluck Tee.
Tilman griff zu einem Marmorkeks.
Farb tat sich ein zweites Stück Pflaumenschnitte auf und überlegte.
Er sehe sich zwar zum erstenmal mit dieser Philosophie der Neuen Phänomenologie konfrontiert, sagte Farb, ein flüchtiger erster Eindruck, sagte er, doch sie gebe Anlaß zu hoffen und lege nahe, daß der Mensch trotz allem in der Lage sei, überkommene Denkmuster infrage zu stellen, sich zu besinnen und sich neu aufzustellen, er müsse sich mit den Grundlagen seiner Existenz beschäftigen, und zwar friedfertig, nichtaggressiv.
Schwierig, sagte Annika und griff wieder zu ihrem Reisemagazin, angesichts der allgegenwärtigen Klimakatastrophe bleibe sie jedoch skeptisch, was Hoffnung betreffe.