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Auflösung

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Der Mensch komme nicht zurecht mit dem Leben, sagte Farb, nichts bringe er auf die Reihe und nenne sich verwegen einen Homo sapiens.

Anmaßend, sagte Annika und blätterte in ihrem Reisemagazin.

Allein daß er die Reichtümer des Planeten nicht so untereinander aufteile, sagte Farb, daß jeder zu annähernd gleichen Teilen davon profitiere, so schwierig könne das doch nicht sein, eine große Zahl Menschen leide Hunger.

Tilman lächelte. Dabei schwinge er große Reden, verkünde hehre Ziele, und was geschehe: nichts.

Es könne wirklich nicht das Problem sein, die Reichtümer gleichmäßig zu verteilen, wiederholte Farb, es gebe Vorbilder bei indigenen Völkern oder in der Ökonomie des alten Ägypten, wo Nahrungsmittel nicht nach Marktpreisen verkauft, sondern nach einem festgestellten Bedarf verteilt wurden, die ökonomischen Strukturen der Moderne seien schlicht menschenverachtend, man möchte das nicht glauben, und es sei unbegreiflich, daß sich die Industriegesellschaft über mehrere Jahrhunderte so ungestört habe ausbreiten können.

Homo sapiens, spottete Tilman.

Aber weshalb, frage er sich, sagte Farb, und ob das an der Industriegesellschaft liege, oder daß der Mensch von Natur aus habgierig sei, das doch wohl eher nicht, und der Fehler sei in der Struktur der Industriegesellschaft zu suchen.

Der Mensch sei von Natur aus weder gut noch böse, sagte Tilman.

Annika warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Ob es am Besitzdenken liege, fragte Farb.

Möglich, sagte Tilman.

Annika blickte kurz auf. Eigentum sei Diebstahl, sagte sie.

Proudhon, sagte Farb und strich die Sahne auf seiner Pflaumenschnitte glatt.

Was man besitze, sagte er, das wolle man schützen, mehren und verteidigen, aber ob die Situation, frage er sich, damit so einfach zu erklären sei.

Möglich, sagte Tilman, und wir kennen ja durchaus andere Formen von Besitz, etwa Gemeineigentum und genossenschaftlich organisierte Modelle, besonders erfolgreich bei Wohneigentum, das bis vor einigen Jahrzehnten noch in großer Zahl in staatlichem Besitz gewesen sei, doch Städte wie München und Berlin hätten zahlreiche Wohnungen leichtfertig verkauft. Wien sei bekannt dafür, daß Wohneigentum in kommunalem Besitz, also gemeinnütziges Eigentum geblieben sei, dort sei die Wohnungsnot aktuell vergleichsweise gering.

Nicht der Besitz an sich sei Ursache für Notstände und letztlich auch für Hunger und Elend, sagte Farb, sondern die Frage, wie er organisiert sei, ob als gemeinschaftliches oder als privates Eigentum.

Annika lächelte und warf erneut einen Blick zum Gohliser Schlößchen. Genaugenommen, sagte sie, seien das keine sensationell neuen Erkenntnisse, und man wundere sich nur, daß diese höchst vernünftigen Überlegungen in der praktischen Politik so geringen Widerhall fänden.

Farb lachte. Politik und Vernunft, spottete er, wie gehe das zusammen, es sei ja im größeren Maßstab nicht viel anders, um Besitz würden blutrünstige Kriege geführt, es gehe um wertvolle Ressourcen, also um Besitz von Regionen mit Bodenschätzen, die dann vom Eigentümer ausgebeutet würden, seltene Erden seien begehrt, Uran sei begehrt, was auch immer, der Planet werde bedenkenlos geplündert, und jeder sehe zu und lasse es geschehen.

Tilman schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten wie sonst auch das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, das Tilman, wie er sagte, aus Beijing mitgebracht hatte, er war auf der Großen Mauer einen Halbmarathon gelaufen, Annika liebte dieses Service.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Es sei tatsächlich nicht besonders viel Gehirnschmalz erforderlich, um die Zusammenhänge angemessen zu beschreiben und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, es lägen zwar Steine im Weg, große, kleine, die Mängel seien offensichtlich, intellektuelle Hochleistung werde aber nicht verlangt, sagte Tilman, und keine besondere Anstrengung, daß man sich frage, weshalb nichts geschehe und weshalb niemand eingreife und wer denn so unnachgiebig an den bestehenden Zuständen festhalte, ein Drahtzieher vielleicht, der hinter den Kulissen und lieber im Verborgenen aktiv sei.

Annika lächelte. Ob das Verschwörungstheorien seien, spottete sie, man könne offen darüber reden, niemand müsse sich verstecken.

Kein Zweifel, sagte Tilman, es gebe diejenigen, die daraus Honig saugten und null Interesse hätten, die Zustände zu verändern und, mehr noch, sie würden ihre Besitzstände mit Zähnen und Klauen verteidigen. Er griff zu einem Marmorkeks.

Annika schenkte sich Tee nach, Yin Zhen.

Sie habe mit Wette gesprochen, er sei auf dem Weg nach Erlangen gewesen zu einem Comic-Salon, sagte sie, ihn gefragt, ob er interessiert sei, Doppelkopf zu spielen, mit ihm wären sie vier.

| WOLF SENFF

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