Messer in der Brust

Roman | Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Wie mag es sich anfühlen, in den 80er und 90er-Jahren in der Kärntner Provinz aufzuwachsen, gerade da, Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht? Bitterböse, aber auch herrlich absurd und sarkastisch lässt Julia Jost die originelle Erzählstimme einer aus der Reihe tanzenden, sich jeglicher Zuordnung verwehrenden Elfjährigen aufleben. Von INGEBORG JAISER

Wie auf einem Drohnenflug zoomen die Bilder heran: vom spitzen Berggipfel der Karawanken über den Flusslauf der Drau bis zum Gasthof Gratschbacher Hof mit seiner Pfettendachgarage und den Waschbetonplatten. Und dann braucht man schon einen mikroskopischen Blick, um auf dem ehemaligen Klassenfoto die Topffrisur der Ich-Erzählerin, das »Flinserl« im Ohr von Andreas und die Brandnarben unter den selbstgehäkelten Strümpfen von Karla zu entdecken. Aber man kann es sich auch sehr bildlich vorstellen.

Wir schreiben das Jahr 1994 und befinden uns in Kärnten, im südlichsten Zipfel Österreichs, schon an Slowenien und Italien angrenzend. Hier herrschen eigene Gesetzmäßigkeiten, hier spricht man einen strengen Dialekt. Nicht einfach für die rotzfreche, unangepasste J., die lieber Bubenjeans trägt, im Badezimmer neben dem Vater mit einem Kamm das Rasieren übt und nicht recht ins Muster passen will. Die geschenkte Barbiepuppe hat sie kaltblütig im Teich ertränkt. Lieber küsst sie heimlich Luca, die Tochter des bosnischen Hausmeisters Emir. Von ihrem Versteck unter einem LKW lässt sie uns teilhaben an ihren Beobachtungen und Gedanken – klüger, hellsichtiger, vorlauter, als es sich für eine Elfjährige ziemen würde, zudem aus umgekehrter Perspektive zum anfänglichen Vogelflugblick. Doch wer kennt sich hier noch aus?

Düsterer Mikrokosmos

Der abgeschiedene, nationalistisch geprägte Landstrich beheimatet ein abgründiges Panoptikum schräger Gestalten und Schicksale zwischen Missbrauch, Bigotterie und Unglücksfällen. Da ist der Pfarrer Don Marco, der noch am liebsten in der Gasthausstube die Beichte abnehmen würde. Oder der dauerrauschige Nachbarbauer Focknhocker, der, als anno 89 die Grenze zwischen Ungarn und dem Burgenland öffnet, erstaunt »A kumman die Russn eina?« fragt und als man ihm »Na, nur die Deitschn!« antwortet, panisch das Weite sucht.

Da ist auch der von auswärts zugezogene Schulbub Franzi (aus Kärntner Sicht mag Tirol geradezu fremdländisch anmuten), der während eines Kinderspiels am Waldhaus sein Leben lassen muss und mit einem sehr besonderen Messer mit der Gravur »Meine Ehre heißt Treue« in der Brust geborgen wird. So mutiert das Waldhaus zur No-Go-Area. »Kein Mensch hält sich seither dort auf, nur die menschlichen Schuldgefühle hängen noch in den Lärchenästen.«

Antiheimatsroman

Neben omnipräsenten Besäufnis-, Ehebruchs- und Gasthausszenen (»die Köllnerin, waßt eh!«) gehören die Rätsel um den mysteriösen Tod Franzis zu den durchgehenden Konstanten der Erzählung. So ist dieser schräge Antiheimatroman in der Nachfolge von Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek, diese queere Coming-of-Age-Geschichte stets mit einem Hauch Spannung unterlegt. Und mit reichlich Kärtner Dialekt, den ein hochdeutsch sozialisierter Leser nicht immer fehlerfrei zu transkribieren vermag. Am besten, man lässt sich den Text von der Autorin Julia Jost selbst vorlesen, die mit ihrer goscherten Protagonistin nicht nur das Geburtsjahr 1982 und den Anfangsbuchstaben, sondern auch sonst noch einiges gemein hat. Einen literarischen Appetithappen konnte man beim Klagenfurter Wettlesen im Jahre 2019 goutieren, als Jost auf Empfehlung des Jurors Klaus Kastberger einen noch unpublizierten Romanauszug unter dem Titel Unweit vom Schakaltal vortrug und prompt den mit 10.000 Euro dotierten Kelag-Preis absahnte. Manch einer aus Jury und Publikum hätte ihr glatt den Ingeborg-Bachmann-Preis zugetraut.

Fünf Jahre mussten nun die Fans ausharren, bis der komplette Debütroman unter der Ägide des Suhrkamp-Verlags in gekonnt disparater Farbgestaltung zwischen alpenländischem Tannengrün und sattem Barbiepuppenpink veröffentlich wurde, wort- und bildgewaltig zugleich.  Unter dem spitzesten Zahn der Karawanken ist der aufkeimende Rechtspopulismus, die beiläufige Verlogenheit ganzer Generationen aufzuspüren. Man muss nur den wilden, fast märchenhaften Erzählungen einer Elfjährigen lauschen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
Berlin: Suhrkamp 2024
231 Seiten. 24 Euro
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