Zuletzt hatte der 53-jährige Stuttgarter Autor Moritz Heger im Vorgängerroman Aus der Mitte des Sees (2021) die Lebens- und Sinnkrise eines Mönchs in den Mittelpunkt gestellt. Es war ein bedächtiges Buch mit tiefgehenden Selbstreflexionen des Protagonisten. Moritz Heger, der auch noch als Gymnasiallehrer für Deutsch und evangelische Religion tätig ist, zelebriert auch in seinem neuen Buch wieder die Langsamkeit, das Innehalten, das Zu-sich-selbst-finden. Von PETER MOHR
Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei höchst unterschiedliche Figuren: die Lehrerin Alex, die nach 36 Jahren aus dem Schuldienst ausgeschieden ist, und der Bestatter Johann, der seinen Betrieb an seinen Sohn weitergegeben hat und sich in ein geerbtes Haus in Ligurien zurückzieht.
Die lebenslustige, kinderlose Alex steckt voller Tatendrang und hat sich vorgenommen, noch einmal »durch zu starten«, ein neues Leben zu beginnen. Sie hat sich ein Tiny-Haus auf Rädern gekauft und träumt davon, im Süden von Ort zu Ort zu ziehen und dort zu pausieren, wo es ihr gefällt.
Johann leidet darunter, dass er nicht weiß, wo sich seine Tochter Nora aufhält, die sich früh von der Familie abgewandt hat. Möglicherweise ist an dieser Mischung aus Ungewissheit und Schuldgefühlen auch die (nur noch auf dem Papier existierende) Ehe gescheitert.
Schließlich lädt Johann Alex ein, sich mit ihrem Tiny-Haus auf dem großen Grundstück in Ligurien niederzulassen. Trotz (oder gerade wegen) der unterschiedlichen Charaktere reden die beiden in langen Gesprächen über ihre zurück liegenden Lebensetappen, über Enttäuschungen, aber auch über latente Sehnsüchte nach einem wie auch immer gearteten Neuanfang. Moritz Heger lässt uns auf einfühlsame Weise an den Dialogen teilhaben, am langsamen, fast schüchternen Kennenlernen.
Sie berichten einander von ihren Berufserfahrungen. Johann hatte täglich mit dem Tod, mit Trauer und Abschied zu tun. Das ist nicht spurlos an ihm vorbei gegangen. Er hatte auch damit zu kämpfen, dass die Beerdigungen immer stärker zum öffentlichen »Event« wurden.
Im Gegensatz dazu beschäftigte sich Alex zeitlebens mit Heranwachsenden, die sie auf das spätere Leben vorzubereiten hatte. Aber auch sie stieß in ihrem Beruf (je älter sie wurde) auf Probleme. Mit der zunehmenden Digitalisierung des Schulalltags hatte sie ihre Schwierigkeiten und befürchtete eine Entfremdung im Unterricht. »Lange habe ich dir keinen Brief auf Papier geschrieben. Dabei ist es etwas ganz anderes als die digitalen Kurznachrichten«, heißt es am Ende des Romans in Alex‘ Brief an eine ehemalige Schülerin.
Moritz Hegers lebenskluger und völlig unaufgeregt erzählter Roman kreist um drei ganz zentrale Fragen: Was kommt nach der Zeit der Berufstätigkeit? Hält das Leben noch eine zweite Chance bereit? Und wie viel muss jeder dafür selbst tun?
Die Doppelbödigkeit übt zudem einen großen Reiz aus. Da ist einerseits das schöne Ligurien, das malerisch gezeichnete Steinhaus mit den uralten Olivenbäumen und den Zikaden im Umfeld, die vorsichtige Aufbruchstimmung der Protagonisten, das Sich-Arrangieren mit dem Älterwerden, und andererseits ist dazwischen eine subtile Gesellschaftskritik platziert, die bei Heger ohne den moralisierenden, erhobenen Zeigefinger auskommt. Alles bleibt in der Schwebe und lädt zu allerlei Träumereien ein.
Eine wunderbare Ferienlektüre, an deren Ende (in Anlehnung an Sten Nadolnys Bestseller aus dem Jahr 1983) die wohltuende Entdeckung der Langsamkeit steht.
Titelangaben
Moritz Heger: Die Zeit der Zikaden
Zürich: Diogenes 2024
296 Seiten. 24 Euro
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